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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767.

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größte Theil der Psalmen beschäftigt sich mit
dem zeitlichen Zustande des Volks und kann mei-
stens blos durch erbauliche Accommodationen
und Katachresen etwas geistliches bedeuten. --
Unsere Religion hingegen ist geistig, und mit
den erhabensten Zwecken auf eine glückliche
Ewigkeit.

Jene war sinnlich und lange nicht so mo-
ralisch, als die unsere.) Das Volk war noch
nicht zu der feinen Moralität tüchtig, die un-
sere Religion fodert; es muste also mit sinn-
lichen Gebräuchen unterhalten werden. Rei-
nigungen
und Opfer, Gebräuche und
Sazzungen, Priester
und Tempel; al-
les beschäftigte ihr Auge, alles füllete ihre
Gedichte mit Anspielungen, die sie darauf zie-
hen sollten. Die ganze Sprache hat sich also
verändert, und beinahe auch die ganze Reihe
von Begriffen. Jhr Engel des Todes war
nicht unser Teufel: es war ein unmoralisches
Wesen, das GOtt sandte; die andern Engel
hatten nicht so unabtrennbar einen Begriff
der Moralischen Güte mit sich: ihr GOtt selbst
muste ihnen in den stärksten Leidenschaften ge-
schildert werden, damit er sie rührte; sie sa-

hen

groͤßte Theil der Pſalmen beſchaͤftigt ſich mit
dem zeitlichen Zuſtande des Volks und kann mei-
ſtens blos durch erbauliche Accommodationen
und Katachreſen etwas geiſtliches bedeuten. —
Unſere Religion hingegen iſt geiſtig, und mit
den erhabenſten Zwecken auf eine gluͤckliche
Ewigkeit.

Jene war ſinnlich und lange nicht ſo mo-
raliſch, als die unſere.) Das Volk war noch
nicht zu der feinen Moralitaͤt tuͤchtig, die un-
ſere Religion fodert; es muſte alſo mit ſinn-
lichen Gebraͤuchen unterhalten werden. Rei-
nigungen
und Opfer, Gebraͤuche und
Sazzungen, Prieſter
und Tempel; al-
les beſchaͤftigte ihr Auge, alles fuͤllete ihre
Gedichte mit Anſpielungen, die ſie darauf zie-
hen ſollten. Die ganze Sprache hat ſich alſo
veraͤndert, und beinahe auch die ganze Reihe
von Begriffen. Jhr Engel des Todes war
nicht unſer Teufel: es war ein unmoraliſches
Weſen, das GOtt ſandte; die andern Engel
hatten nicht ſo unabtrennbar einen Begriff
der Moraliſchen Guͤte mit ſich: ihr GOtt ſelbſt
muſte ihnen in den ſtaͤrkſten Leidenſchaften ge-
ſchildert werden, damit er ſie ruͤhrte; ſie ſa-

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[225/0057] groͤßte Theil der Pſalmen beſchaͤftigt ſich mit dem zeitlichen Zuſtande des Volks und kann mei- ſtens blos durch erbauliche Accommodationen und Katachreſen etwas geiſtliches bedeuten. — Unſere Religion hingegen iſt geiſtig, und mit den erhabenſten Zwecken auf eine gluͤckliche Ewigkeit. Jene war ſinnlich und lange nicht ſo mo- raliſch, als die unſere.) Das Volk war noch nicht zu der feinen Moralitaͤt tuͤchtig, die un- ſere Religion fodert; es muſte alſo mit ſinn- lichen Gebraͤuchen unterhalten werden. Rei- nigungen und Opfer, Gebraͤuche und Sazzungen, Prieſter und Tempel; al- les beſchaͤftigte ihr Auge, alles fuͤllete ihre Gedichte mit Anſpielungen, die ſie darauf zie- hen ſollten. Die ganze Sprache hat ſich alſo veraͤndert, und beinahe auch die ganze Reihe von Begriffen. Jhr Engel des Todes war nicht unſer Teufel: es war ein unmoraliſches Weſen, das GOtt ſandte; die andern Engel hatten nicht ſo unabtrennbar einen Begriff der Moraliſchen Guͤte mit ſich: ihr GOtt ſelbſt muſte ihnen in den ſtaͤrkſten Leidenſchaften ge- ſchildert werden, damit er ſie ruͤhrte; ſie ſa- hen

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767, S. 225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/57>, abgerufen am 27.04.2024.