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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767.

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jähnen machen: und denn nicht die gehörigen
Beweggründe und Reizungen zu den Em-
pfindungen, die sie erwecken sollen. Klop-
stock,
der selbst eine Empfindungsvolle See-
le zeigt, hat sich gewisse Gegenstände der Re-
ligion, insonderheit bei den Martern des Er-
lösers einige Nuancen so eingedrückt, daß,
wenn er auf sie geräth, er sich verweilt, und
in Empfindungen ausbricht, die er bei dem
Leser nicht gnug vorbereitet hat: und bei
denen also mancher nichts empfindet. Wenn
unsre ganze Einbildungskraft in Arbeit ist:
so kann sich aus dem ganzen rührenden Ge-
mälde ein Zug (nicht immer der bedeutendste)
am tiefsten eindrucken, der nachher jedesmal
das ganze Gemälde zurückbringt, und also auch
durch die Einbildungskraft die ganze Em-
pfindung wieder aufregt -- aber dies lezte
geschieht bei einem fremden Leser, nicht durch
den einzelnen Zug, sondern durch das treue
Ganze, das man ihm also vormalen muß. Um
dies mit einem Beispiel zu beweisen: so ha-
be ich einen frommen redlichen Greis ge-
kannt, der in seinen lezten schwachen Jah-
ren bei seinem Unterricht und Gebeten nie so

sehr

jaͤhnen machen: und denn nicht die gehoͤrigen
Beweggruͤnde und Reizungen zu den Em-
pfindungen, die ſie erwecken ſollen. Klop-
ſtock,
der ſelbſt eine Empfindungsvolle See-
le zeigt, hat ſich gewiſſe Gegenſtaͤnde der Re-
ligion, inſonderheit bei den Martern des Er-
loͤſers einige Nuancen ſo eingedruͤckt, daß,
wenn er auf ſie geraͤth, er ſich verweilt, und
in Empfindungen ausbricht, die er bei dem
Leſer nicht gnug vorbereitet hat: und bei
denen alſo mancher nichts empfindet. Wenn
unſre ganze Einbildungskraft in Arbeit iſt:
ſo kann ſich aus dem ganzen ruͤhrenden Ge-
maͤlde ein Zug (nicht immer der bedeutendſte)
am tiefſten eindrucken, der nachher jedesmal
das ganze Gemaͤlde zuruͤckbringt, und alſo auch
durch die Einbildungskraft die ganze Em-
pfindung wieder aufregt — aber dies lezte
geſchieht bei einem fremden Leſer, nicht durch
den einzelnen Zug, ſondern durch das treue
Ganze, das man ihm alſo vormalen muß. Um
dies mit einem Beiſpiel zu beweiſen: ſo ha-
be ich einen frommen redlichen Greis ge-
kannt, der in ſeinen lezten ſchwachen Jah-
ren bei ſeinem Unterricht und Gebeten nie ſo

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[227/0059] jaͤhnen machen: und denn nicht die gehoͤrigen Beweggruͤnde und Reizungen zu den Em- pfindungen, die ſie erwecken ſollen. Klop- ſtock, der ſelbſt eine Empfindungsvolle See- le zeigt, hat ſich gewiſſe Gegenſtaͤnde der Re- ligion, inſonderheit bei den Martern des Er- loͤſers einige Nuancen ſo eingedruͤckt, daß, wenn er auf ſie geraͤth, er ſich verweilt, und in Empfindungen ausbricht, die er bei dem Leſer nicht gnug vorbereitet hat: und bei denen alſo mancher nichts empfindet. Wenn unſre ganze Einbildungskraft in Arbeit iſt: ſo kann ſich aus dem ganzen ruͤhrenden Ge- maͤlde ein Zug (nicht immer der bedeutendſte) am tiefſten eindrucken, der nachher jedesmal das ganze Gemaͤlde zuruͤckbringt, und alſo auch durch die Einbildungskraft die ganze Em- pfindung wieder aufregt — aber dies lezte geſchieht bei einem fremden Leſer, nicht durch den einzelnen Zug, ſondern durch das treue Ganze, das man ihm alſo vormalen muß. Um dies mit einem Beiſpiel zu beweiſen: ſo ha- be ich einen frommen redlichen Greis ge- kannt, der in ſeinen lezten ſchwachen Jah- ren bei ſeinem Unterricht und Gebeten nie ſo ſehr

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767, S. 227. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/59>, abgerufen am 29.04.2024.