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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767.

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nennet, daß unsere Politische Wörterbücher
unserer sinnlichen Sprache Würde entzogen
haben u. s. w. man erinnere sich dessen, und
vergleiche den Charakter unsrer Sitten und
Zeiten mit jenen, so wird man finden:

Der Poetische Sinn ist nicht mehr derselbe.
Jener wirkte schnell und heftig; nicht aber
eben zart und dauerhaft. Die Saite ihrer
Empfindung des Poetisch Schönen (ich will
nicht wie Montesquieu bis auf ihr Fasern-
gewebe, und auf das Temperament ihres Kli-
ma zurückgehen) wird ihren Sitten und Zeit
gemäß heftig getroffen, und bald verlassen.
Unser Poetischer Sinn ist mehr langsam und
überlegend, als brausend. Selbst das sanfte
Griechische Gefühl wird unter unserm Him-
mel nicht reif; wie sollte er denn die über-
mäßig frühzeitigen Früchte der Morgenlän-
der reifen? Unsre Saite der Poetischen Em-
pfindung giebt nach: wir bleiben kä[l]ter, als
die Griechen mit zarten, oder die Morgen-
länder mit heftigen Sinnen: wir bleiben
selbst im Poetischen Fluge, wie die Strauße
dem Boden des Wahren treuer, und kommen

zur

nennet, daß unſere Politiſche Woͤrterbuͤcher
unſerer ſinnlichen Sprache Wuͤrde entzogen
haben u. ſ. w. man erinnere ſich deſſen, und
vergleiche den Charakter unſrer Sitten und
Zeiten mit jenen, ſo wird man finden:

Der Poetiſche Sinn iſt nicht mehr derſelbe.
Jener wirkte ſchnell und heftig; nicht aber
eben zart und dauerhaft. Die Saite ihrer
Empfindung des Poetiſch Schoͤnen (ich will
nicht wie Montesquieu bis auf ihr Faſern-
gewebe, und auf das Temperament ihres Kli-
ma zuruͤckgehen) wird ihren Sitten und Zeit
gemaͤß heftig getroffen, und bald verlaſſen.
Unſer Poetiſcher Sinn iſt mehr langſam und
uͤberlegend, als brauſend. Selbſt das ſanfte
Griechiſche Gefuͤhl wird unter unſerm Him-
mel nicht reif; wie ſollte er denn die uͤber-
maͤßig fruͤhzeitigen Fruͤchte der Morgenlaͤn-
der reifen? Unſre Saite der Poetiſchen Em-
pfindung giebt nach: wir bleiben kaͤ[l]ter, als
die Griechen mit zarten, oder die Morgen-
laͤnder mit heftigen Sinnen: wir bleiben
ſelbſt im Poetiſchen Fluge, wie die Strauße
dem Boden des Wahren treuer, und kommen

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[234/0066] nennet, daß unſere Politiſche Woͤrterbuͤcher unſerer ſinnlichen Sprache Wuͤrde entzogen haben u. ſ. w. man erinnere ſich deſſen, und vergleiche den Charakter unſrer Sitten und Zeiten mit jenen, ſo wird man finden: Der Poetiſche Sinn iſt nicht mehr derſelbe. Jener wirkte ſchnell und heftig; nicht aber eben zart und dauerhaft. Die Saite ihrer Empfindung des Poetiſch Schoͤnen (ich will nicht wie Montesquieu bis auf ihr Faſern- gewebe, und auf das Temperament ihres Kli- ma zuruͤckgehen) wird ihren Sitten und Zeit gemaͤß heftig getroffen, und bald verlaſſen. Unſer Poetiſcher Sinn iſt mehr langſam und uͤberlegend, als brauſend. Selbſt das ſanfte Griechiſche Gefuͤhl wird unter unſerm Him- mel nicht reif; wie ſollte er denn die uͤber- maͤßig fruͤhzeitigen Fruͤchte der Morgenlaͤn- der reifen? Unſre Saite der Poetiſchen Em- pfindung giebt nach: wir bleiben kaͤlter, als die Griechen mit zarten, oder die Morgen- laͤnder mit heftigen Sinnen: wir bleiben ſelbſt im Poetiſchen Fluge, wie die Strauße dem Boden des Wahren treuer, und kommen zur

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767, S. 234. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/66>, abgerufen am 28.04.2024.