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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767.

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schen zu studiren sind? Studiren heißt
freilich zuerst den Wortverstand erforschen,
und das so gründlich, als es zu folgenden
Stücken gehört: man suche aber auch mit
dem Auge der Philosophie in ihren Geist
zu blicken: mit dem Auge der Aesthetik die
feinen Schönheiten zu zergliedern, die den
Kritikern sonst gemeiniglich nur im Uebermaas
erscheinen, und denn suche man mit dem Au-
ge der Geschichte Zeit gegen Zeit, Land ge-
gen Land und Genie gegen Genie zu halten.

Diderot erdichtet sich eine Gesellschaft
Menschen, jedweder mit einem Sinn: und
jeder ist ein Narr des andern: ein Bild des-
sen, sagt er, was täglich in der Welt ge-
schieht! -- und am meisten, kann ich dazu
sezzen, in der Kritischen Welt: jeder hat ei-
nen Sinn und urtheilt vom Ganzen. Der
Franzose zergliedert höchstens einige Schön-
heiten flüchtig, bildet seinen Autor nach dem
Geschmack seines Landes, und glaubt sich als-
denn schon als den besten Kunstrichter: den
Wust Lateinischer Wortkritiken sieht er für
Schlamm an, wobei er sich verekelt. Wie-
derum der Holländische und Deutsche Wort-

gelehr-
S

ſchen zu ſtudiren ſind? Studiren heißt
freilich zuerſt den Wortverſtand erforſchen,
und das ſo gruͤndlich, als es zu folgenden
Stuͤcken gehoͤrt: man ſuche aber auch mit
dem Auge der Philoſophie in ihren Geiſt
zu blicken: mit dem Auge der Aeſthetik die
feinen Schoͤnheiten zu zergliedern, die den
Kritikern ſonſt gemeiniglich nur im Uebermaas
erſcheinen, und denn ſuche man mit dem Au-
ge der Geſchichte Zeit gegen Zeit, Land ge-
gen Land und Genie gegen Genie zu halten.

Diderot erdichtet ſich eine Geſellſchaft
Menſchen, jedweder mit einem Sinn: und
jeder iſt ein Narr des andern: ein Bild deſ-
ſen, ſagt er, was taͤglich in der Welt ge-
ſchieht! — und am meiſten, kann ich dazu
ſezzen, in der Kritiſchen Welt: jeder hat ei-
nen Sinn und urtheilt vom Ganzen. Der
Franzoſe zergliedert hoͤchſtens einige Schoͤn-
heiten fluͤchtig, bildet ſeinen Autor nach dem
Geſchmack ſeines Landes, und glaubt ſich als-
denn ſchon als den beſten Kunſtrichter: den
Wuſt Lateiniſcher Wortkritiken ſieht er fuͤr
Schlamm an, wobei er ſich verekelt. Wie-
derum der Hollaͤndiſche und Deutſche Wort-

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[261/0093] ſchen zu ſtudiren ſind? Studiren heißt freilich zuerſt den Wortverſtand erforſchen, und das ſo gruͤndlich, als es zu folgenden Stuͤcken gehoͤrt: man ſuche aber auch mit dem Auge der Philoſophie in ihren Geiſt zu blicken: mit dem Auge der Aeſthetik die feinen Schoͤnheiten zu zergliedern, die den Kritikern ſonſt gemeiniglich nur im Uebermaas erſcheinen, und denn ſuche man mit dem Au- ge der Geſchichte Zeit gegen Zeit, Land ge- gen Land und Genie gegen Genie zu halten. Diderot erdichtet ſich eine Geſellſchaft Menſchen, jedweder mit einem Sinn: und jeder iſt ein Narr des andern: ein Bild deſ- ſen, ſagt er, was taͤglich in der Welt ge- ſchieht! — und am meiſten, kann ich dazu ſezzen, in der Kritiſchen Welt: jeder hat ei- nen Sinn und urtheilt vom Ganzen. Der Franzoſe zergliedert hoͤchſtens einige Schoͤn- heiten fluͤchtig, bildet ſeinen Autor nach dem Geſchmack ſeines Landes, und glaubt ſich als- denn ſchon als den beſten Kunſtrichter: den Wuſt Lateiniſcher Wortkritiken ſieht er fuͤr Schlamm an, wobei er ſich verekelt. Wie- derum der Hollaͤndiſche und Deutſche Wort- gelehr- S

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767, S. 261. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/93>, abgerufen am 29.04.2024.