Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767.

Bild:
<< vorherige Seite

"sie die Systeme der Weltweisen vortragen,
"wenn sie sich in die Höhen des Unermäßli-
"chen emporschwingen, wenn sie den Schö-
"pfer und seine Werke besingen; hingegen
"sinken sie unter das Mittelmäßige, so bald
"sie sich zu den Sitten der Menschen herab-
"lassen. Popens Essay on man möchte man
"einem Deutschen weit eher zutrauen, als ei-
"nem Franzosen; aber seine Moral Essays
"verrathen eine so feine Känntniß des mensch-
"lichen Herzens, als noch nie ein deutscher
"Schriftsteller gezeigt." -- Diese beide
ganz wahre Bemerkungen machen, daß ich
den deutschen Dichtern die philosophische Dich-
tungsart des Lukrez, als ein glückliches und
reizendes Feld anpreise: doch mit einiger Ein-
schränkung. -- Lukrez ist in meinen Augen
nach dem Feuer seiner Bilder einer der ersten
Genies unter den Römern. Wenn man die
trockne Philosophie sieht, mit der er kämpfen
mußte, die Schwierigkeiten, mit denen er
stritte -- -- propter egestatem linguae ac
rerum nouitatem
-- -- und die er doch
überwand, die Strenge, mit der er seiner
Schule gnug thut, und die herrlichen Gemälde

und

„ſie die Syſteme der Weltweiſen vortragen,
„wenn ſie ſich in die Hoͤhen des Unermaͤßli-
„chen emporſchwingen, wenn ſie den Schoͤ-
„pfer und ſeine Werke beſingen; hingegen
„ſinken ſie unter das Mittelmaͤßige, ſo bald
„ſie ſich zu den Sitten der Menſchen herab-
„laſſen. Popens Eſſay on man moͤchte man
„einem Deutſchen weit eher zutrauen, als ei-
„nem Franzoſen; aber ſeine Moral Eſſays
„verrathen eine ſo feine Kaͤnntniß des menſch-
„lichen Herzens, als noch nie ein deutſcher
„Schriftſteller gezeigt.„ — Dieſe beide
ganz wahre Bemerkungen machen, daß ich
den deutſchen Dichtern die philoſophiſche Dich-
tungsart des Lukrez, als ein gluͤckliches und
reizendes Feld anpreiſe: doch mit einiger Ein-
ſchraͤnkung. — Lukrez iſt in meinen Augen
nach dem Feuer ſeiner Bilder einer der erſten
Genies unter den Roͤmern. Wenn man die
trockne Philoſophie ſieht, mit der er kaͤmpfen
mußte, die Schwierigkeiten, mit denen er
ſtritte — — propter egeſtatem linguae ac
rerum nouitatem
— — und die er doch
uͤberwand, die Strenge, mit der er ſeiner
Schule gnug thut, und die herrlichen Gemaͤlde

und
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0216" n="208"/>
&#x201E;&#x017F;ie die Sy&#x017F;teme der Weltwei&#x017F;en vortragen,<lb/>
&#x201E;wenn &#x017F;ie &#x017F;ich in die Ho&#x0364;hen des Unerma&#x0364;ßli-<lb/>
&#x201E;chen empor&#x017F;chwingen, wenn &#x017F;ie den Scho&#x0364;-<lb/>
&#x201E;pfer und &#x017F;eine Werke be&#x017F;ingen; hingegen<lb/>
&#x201E;&#x017F;inken &#x017F;ie unter das Mittelma&#x0364;ßige, &#x017F;o bald<lb/>
&#x201E;&#x017F;ie &#x017F;ich zu den Sitten der Men&#x017F;chen herab-<lb/>
&#x201E;la&#x017F;&#x017F;en. Popens <hi rendition="#aq"><hi rendition="#i">E&#x017F;&#x017F;ay on man</hi></hi> mo&#x0364;chte man<lb/>
&#x201E;einem Deut&#x017F;chen weit eher zutrauen, als ei-<lb/>
&#x201E;nem Franzo&#x017F;en; aber &#x017F;eine <hi rendition="#aq">Moral E&#x017F;&#x017F;ays</hi><lb/>
&#x201E;verrathen eine &#x017F;o feine Ka&#x0364;nntniß des men&#x017F;ch-<lb/>
&#x201E;lichen Herzens, als noch nie ein deut&#x017F;cher<lb/>
&#x201E;Schrift&#x017F;teller gezeigt.&#x201E; &#x2014; Die&#x017F;e beide<lb/>
ganz wahre Bemerkungen machen, daß ich<lb/>
den deut&#x017F;chen Dichtern die philo&#x017F;ophi&#x017F;che Dich-<lb/>
tungsart des <hi rendition="#fr">Lukrez,</hi> als ein glu&#x0364;ckliches und<lb/>
reizendes Feld anprei&#x017F;e: doch mit einiger Ein-<lb/>
&#x017F;chra&#x0364;nkung. &#x2014; <hi rendition="#fr">Lukrez</hi> i&#x017F;t in meinen Augen<lb/>
nach dem Feuer &#x017F;einer Bilder einer der er&#x017F;ten<lb/><hi rendition="#fr">Genies</hi> unter den Ro&#x0364;mern. Wenn man die<lb/><hi rendition="#fr">trockne</hi> Philo&#x017F;ophie &#x017F;ieht, mit der er ka&#x0364;mpfen<lb/>
mußte, die Schwierigkeiten, mit denen er<lb/>
&#x017F;tritte &#x2014; &#x2014; <hi rendition="#aq">propter ege&#x017F;tatem linguae ac<lb/>
rerum nouitatem</hi> &#x2014; &#x2014; und die er doch<lb/>
u&#x0364;berwand, die Strenge, mit der er &#x017F;einer<lb/>
Schule gnug thut, und die herrlichen Gema&#x0364;lde<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">und</fw><lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[208/0216] „ſie die Syſteme der Weltweiſen vortragen, „wenn ſie ſich in die Hoͤhen des Unermaͤßli- „chen emporſchwingen, wenn ſie den Schoͤ- „pfer und ſeine Werke beſingen; hingegen „ſinken ſie unter das Mittelmaͤßige, ſo bald „ſie ſich zu den Sitten der Menſchen herab- „laſſen. Popens Eſſay on man moͤchte man „einem Deutſchen weit eher zutrauen, als ei- „nem Franzoſen; aber ſeine Moral Eſſays „verrathen eine ſo feine Kaͤnntniß des menſch- „lichen Herzens, als noch nie ein deutſcher „Schriftſteller gezeigt.„ — Dieſe beide ganz wahre Bemerkungen machen, daß ich den deutſchen Dichtern die philoſophiſche Dich- tungsart des Lukrez, als ein gluͤckliches und reizendes Feld anpreiſe: doch mit einiger Ein- ſchraͤnkung. — Lukrez iſt in meinen Augen nach dem Feuer ſeiner Bilder einer der erſten Genies unter den Roͤmern. Wenn man die trockne Philoſophie ſieht, mit der er kaͤmpfen mußte, die Schwierigkeiten, mit denen er ſtritte — — propter egeſtatem linguae ac rerum nouitatem — — und die er doch uͤberwand, die Strenge, mit der er ſeiner Schule gnug thut, und die herrlichen Gemaͤlde und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/216
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 208. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/216>, abgerufen am 15.05.2024.