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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767.

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non der neuern Zeiten bleibt. -- Und was
kann ich hieraus folgern? -- Dies, daß ein
poetisches Gebäude von dieser Art eben-
falls auch das Denkmaal unsres Volks und
unsrer Zeit seyn könnte. Jn dem eigentlichen
Spekulativen der Weltweisheit ist der
Dichter immer ein Fremdling; man sage, was
man will, er bleibt ein Gileaditer, der sich in
diese platonische Republik einstiehlet, um Holz-
hauer und Wasserträger zu seyn. Das Dich-
terische, was der Lehrdichter, der Systeme
reimt,
behalten kann, um den Weltweisen
nicht gleich für den Kopf zu stopfen, sind alte
Schuh, und verschimmelt Brodt: und allen
den Nutzen, den er dem Philosophen gibt, ist,
daß er so viel von dem philosophischen Geist
ihm raubt, als er ihm dichterischen gibt:
eigentliche Bürger können sie nie zusammen
werden.

Aber die philosophischen Ersahrungen,
Muthmaßungen
und Hypothesen über die
menschliche Seele; -- die sind aller Stär-
ke der Dichtkunst fähig, und aller ihrer Reize
werth. An der Fähigkeit wird niemand
zweifeln, und wenn zehn feige Kunstrichter

zitter-

non der neuern Zeiten bleibt. — Und was
kann ich hieraus folgern? — Dies, daß ein
poetiſches Gebaͤude von dieſer Art eben-
falls auch das Denkmaal unſres Volks und
unſrer Zeit ſeyn koͤnnte. Jn dem eigentlichen
Spekulativen der Weltweisheit iſt der
Dichter immer ein Fremdling; man ſage, was
man will, er bleibt ein Gileaditer, der ſich in
dieſe platoniſche Republik einſtiehlet, um Holz-
hauer und Waſſertraͤger zu ſeyn. Das Dich-
teriſche, was der Lehrdichter, der Syſteme
reimt,
behalten kann, um den Weltweiſen
nicht gleich fuͤr den Kopf zu ſtopfen, ſind alte
Schuh, und verſchimmelt Brodt: und allen
den Nutzen, den er dem Philoſophen gibt, iſt,
daß er ſo viel von dem philoſophiſchen Geiſt
ihm raubt, als er ihm dichteriſchen gibt:
eigentliche Buͤrger koͤnnen ſie nie zuſammen
werden.

Aber die philoſophiſchen Erſahrungen,
Muthmaßungen
und Hypotheſen uͤber die
menſchliche Seele; — die ſind aller Staͤr-
ke der Dichtkunſt faͤhig, und aller ihrer Reize
werth. An der Faͤhigkeit wird niemand
zweifeln, und wenn zehn feige Kunſtrichter

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[214/0222] non der neuern Zeiten bleibt. — Und was kann ich hieraus folgern? — Dies, daß ein poetiſches Gebaͤude von dieſer Art eben- falls auch das Denkmaal unſres Volks und unſrer Zeit ſeyn koͤnnte. Jn dem eigentlichen Spekulativen der Weltweisheit iſt der Dichter immer ein Fremdling; man ſage, was man will, er bleibt ein Gileaditer, der ſich in dieſe platoniſche Republik einſtiehlet, um Holz- hauer und Waſſertraͤger zu ſeyn. Das Dich- teriſche, was der Lehrdichter, der Syſteme reimt, behalten kann, um den Weltweiſen nicht gleich fuͤr den Kopf zu ſtopfen, ſind alte Schuh, und verſchimmelt Brodt: und allen den Nutzen, den er dem Philoſophen gibt, iſt, daß er ſo viel von dem philoſophiſchen Geiſt ihm raubt, als er ihm dichteriſchen gibt: eigentliche Buͤrger koͤnnen ſie nie zuſammen werden. Aber die philoſophiſchen Erſahrungen, Muthmaßungen und Hypotheſen uͤber die menſchliche Seele; — die ſind aller Staͤr- ke der Dichtkunſt faͤhig, und aller ihrer Reize werth. An der Faͤhigkeit wird niemand zweifeln, und wenn zehn feige Kunſtrichter zitter-

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 214. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/222>, abgerufen am 16.05.2024.