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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767.

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zitterten und Einwürfe machten, und Boll-
werke bauten, und Schlingen legten: so fühle
ichs doch, daß alle ihre Warnungen zu klein
sind, um ein Genie zitternd zu machen: groß-
müthig würde es sie verachten, und sehr gern
eine Ausnahme machen, wenn seine Ausnah-
me nur Meisterstück ist. Wenn da, wo der
Weltweise nur von fern furchtsam lauschen
muß, der Dichter, als Bote der Götter, als
Vertrauter der Geheimnisse des Geistes, mit
kühnen Schritten fortginge, um in das Heili-
ge zu dringen: was würde er sehen? Von
keinem Auge gesehene Dinge! Was würde er
hören? Heilige und geweihte Worte, die nie-
mand gehöret! Und was sprechen? Geflügelte
Sprüche, die keine Zunge vor ihm wagte. --
Jch will mich erklären. Wenn die Erfahrun-
gen,
die man über und in der menschlichen
Seele angestellet, zu poetischen Körpern um-
geschaffen würden: wenn die Muthmaßun-
gen
des Weltweisen vom Dichter, nach der
ihm verliehenen Freiheit, sinnliche Gewiß-
heit
bekämen: wenn die Hypothesen zu dich-
terischen Fiktionen sich umbildeten: wenn jede
große psychologische Wahrheit sinnliches

Leben
O 4

zitterten und Einwuͤrfe machten, und Boll-
werke bauten, und Schlingen legten: ſo fuͤhle
ichs doch, daß alle ihre Warnungen zu klein
ſind, um ein Genie zitternd zu machen: groß-
muͤthig wuͤrde es ſie verachten, und ſehr gern
eine Ausnahme machen, wenn ſeine Ausnah-
me nur Meiſterſtuͤck iſt. Wenn da, wo der
Weltweiſe nur von fern furchtſam lauſchen
muß, der Dichter, als Bote der Goͤtter, als
Vertrauter der Geheimniſſe des Geiſtes, mit
kuͤhnen Schritten fortginge, um in das Heili-
ge zu dringen: was wuͤrde er ſehen? Von
keinem Auge geſehene Dinge! Was wuͤrde er
hoͤren? Heilige und geweihte Worte, die nie-
mand gehoͤret! Und was ſprechen? Gefluͤgelte
Spruͤche, die keine Zunge vor ihm wagte. —
Jch will mich erklaͤren. Wenn die Erfahrun-
gen,
die man uͤber und in der menſchlichen
Seele angeſtellet, zu poetiſchen Koͤrpern um-
geſchaffen wuͤrden: wenn die Muthmaßun-
gen
des Weltweiſen vom Dichter, nach der
ihm verliehenen Freiheit, ſinnliche Gewiß-
heit
bekaͤmen: wenn die Hypotheſen zu dich-
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Leben
O 4
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[215/0223] zitterten und Einwuͤrfe machten, und Boll- werke bauten, und Schlingen legten: ſo fuͤhle ichs doch, daß alle ihre Warnungen zu klein ſind, um ein Genie zitternd zu machen: groß- muͤthig wuͤrde es ſie verachten, und ſehr gern eine Ausnahme machen, wenn ſeine Ausnah- me nur Meiſterſtuͤck iſt. Wenn da, wo der Weltweiſe nur von fern furchtſam lauſchen muß, der Dichter, als Bote der Goͤtter, als Vertrauter der Geheimniſſe des Geiſtes, mit kuͤhnen Schritten fortginge, um in das Heili- ge zu dringen: was wuͤrde er ſehen? Von keinem Auge geſehene Dinge! Was wuͤrde er hoͤren? Heilige und geweihte Worte, die nie- mand gehoͤret! Und was ſprechen? Gefluͤgelte Spruͤche, die keine Zunge vor ihm wagte. — Jch will mich erklaͤren. Wenn die Erfahrun- gen, die man uͤber und in der menſchlichen Seele angeſtellet, zu poetiſchen Koͤrpern um- geſchaffen wuͤrden: wenn die Muthmaßun- gen des Weltweiſen vom Dichter, nach der ihm verliehenen Freiheit, ſinnliche Gewiß- heit bekaͤmen: wenn die Hypotheſen zu dich- teriſchen Fiktionen ſich umbildeten: wenn jede große pſychologiſche Wahrheit ſinnliches Leben O 4

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 215. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/223>, abgerufen am 22.05.2024.