Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herzl, Theodor: Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage. Leipzig u. a., 1896.

Bild:
<< vorherige Seite

Dazu muss vor Allem in den Seelen tabula rasa gemacht
werden von mancherlei alten, überholten, verworrenen, beschränkten
Vorstellungen. So werden dumpfe Gehirne zunächst
meinen, dass die Wanderung aus der Cultur hinaus in die
Wüste gehen müsse. Nicht wahr! Die Wanderung vollzieht sich
mitten in der Cultur. Man kehrt nicht auf eine niedrigere Stufe
zurück, sondern ersteigt eine höhere. Man bezieht keine Lehmhütten,
sondern schönere, modernere Häuser, die man sich neu
baut und ungefährdet besitzen darf. Man verliert nicht sein
erworbenes Gut, sondern verwerthet es. Man gibt sein gutes
Recht nur auf gegen ein besseres. Man trennt sich nicht von
seinen lieben Gewohnheiten, sondern findet sie wieder. Man
verlässt das alte Haus nicht, bevor das neue fertig ist. Es ziehen
immer nur diejenigen, die sicher sind, ihre Lage dadurch zu
verbessern. Erst die Verzweifelten, dann die Armen, dann die
Wohlhabenden, dann die Reichen. Die Vorangegangenen erheben
sich in die höhere Schichte, bis diese letztere ihre Angehörigen
nachschickt. Die Wanderung ist zugleich eine aufsteigende
Classenbewegung.

Und hinter den abziehenden Juden entstehen keine wirthschaftlichen
Störungen, keine Krisen und Verfolgungen, sondern
es beginnt eine Periode der Wohlfahrt für die verlassenen
Länder. Es tritt eine innere Wanderung der christlichen Staatsbürger
in die aufgegebenen Positionen der Juden ein. Der
Abfluss ist ein allmäliger, ohne jede Erschütterung, und schon
sein Beginn ist das Ende des Antisemitismus. Die Juden scheiden
als geachtete Freunde, und wenn Einzelne dann zurückkommen,
wird man sie in den civilisirten Ländern genau so wohlwollend
aufnehmen und behandeln, wie andere fremde Staatsangehörige.
Diese Wanderung ist auch keine Flucht, sondern ein geordneter
Zug unter der Controle der öffentlichen Meinung. Die Bewegung
ist nicht nur mit vollkommen gesetzlichen Mitteln einzuleiten,
sie kann überhaupt nur durchgeführt werden unter freundlicher
Mitwirkung der betheiligten Regierungen, die davon wesentliche
Vortheile haben.

Für die Reinheit der Idee und die Kraft ihrer Ausführung
sind Bürgschaften nöthig, die sich nur in sogenannten "moralischen"
oder "juristischen" Personen finden lassen. Ich will
diese beiden Bezeichnungen, die in der Juristensprache häufig
verwechselt werden, auseinanderhalten. Als moralische Person,
welche Subject von Rechten ausserhalb der Privat-Vermögenssphäre
ist, stelle ich die Society of Jews auf. Daneben steht
die juristische Person der Jewish Company, die ein Erwerbswesen
ist.

Dazu muss vor Allem in den Seelen tabula rasa gemacht
werden von mancherlei alten, überholten, verworrenen, beschränkten
Vorstellungen. So werden dumpfe Gehirne zunächst
meinen, dass die Wanderung aus der Cultur hinaus in die
Wüste gehen müsse. Nicht wahr! Die Wanderung vollzieht sich
mitten in der Cultur. Man kehrt nicht auf eine niedrigere Stufe
zurück, sondern ersteigt eine höhere. Man bezieht keine Lehmhütten,
sondern schönere, modernere Häuser, die man sich neu
baut und ungefährdet besitzen darf. Man verliert nicht sein
erworbenes Gut, sondern verwerthet es. Man gibt sein gutes
Recht nur auf gegen ein besseres. Man trennt sich nicht von
seinen lieben Gewohnheiten, sondern findet sie wieder. Man
verlässt das alte Haus nicht, bevor das neue fertig ist. Es ziehen
immer nur diejenigen, die sicher sind, ihre Lage dadurch zu
verbessern. Erst die Verzweifelten, dann die Armen, dann die
Wohlhabenden, dann die Reichen. Die Vorangegangenen erheben
sich in die höhere Schichte, bis diese letztere ihre Angehörigen
nachschickt. Die Wanderung ist zugleich eine aufsteigende
Classenbewegung.

Und hinter den abziehenden Juden entstehen keine wirthschaftlichen
Störungen, keine Krisen und Verfolgungen, sondern
es beginnt eine Periode der Wohlfahrt für die verlassenen
Länder. Es tritt eine innere Wanderung der christlichen Staatsbürger
in die aufgegebenen Positionen der Juden ein. Der
Abfluss ist ein allmäliger, ohne jede Erschütterung, und schon
sein Beginn ist das Ende des Antisemitismus. Die Juden scheiden
als geachtete Freunde, und wenn Einzelne dann zurückkommen,
wird man sie in den civilisirten Ländern genau so wohlwollend
aufnehmen und behandeln, wie andere fremde Staatsangehörige.
Diese Wanderung ist auch keine Flucht, sondern ein geordneter
Zug unter der Controle der öffentlichen Meinung. Die Bewegung
ist nicht nur mit vollkommen gesetzlichen Mitteln einzuleiten,
sie kann überhaupt nur durchgeführt werden unter freundlicher
Mitwirkung der betheiligten Regierungen, die davon wesentliche
Vortheile haben.

Für die Reinheit der Idee und die Kraft ihrer Ausführung
sind Bürgschaften nöthig, die sich nur in sogenannten „moralischen“
oder „juristischen“ Personen finden lassen. Ich will
diese beiden Bezeichnungen, die in der Juristensprache häufig
verwechselt werden, auseinanderhalten. Als moralische Person,
welche Subject von Rechten ausserhalb der Privat-Vermögenssphäre
ist, stelle ich die Society of Jews auf. Daneben steht
die juristische Person der Jewish Company, die ein Erwerbswesen
ist.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0016"/>
        <p>Dazu muss vor Allem in den Seelen tabula rasa gemacht<lb/>
werden von mancherlei alten, überholten, verworrenen, beschränkten<lb/>
Vorstellungen. So werden dumpfe Gehirne zunächst<lb/>
meinen, dass die Wanderung aus der Cultur hinaus in die<lb/>
Wüste gehen müsse. Nicht wahr! Die Wanderung vollzieht sich<lb/>
mitten in der Cultur. Man kehrt nicht auf eine niedrigere Stufe<lb/>
zurück, sondern ersteigt eine höhere. Man bezieht keine Lehmhütten,<lb/>
sondern schönere, modernere Häuser, die man sich neu<lb/>
baut und ungefährdet besitzen darf. Man verliert nicht sein<lb/>
erworbenes Gut, sondern verwerthet es. Man gibt sein gutes<lb/>
Recht nur auf gegen ein besseres. Man trennt sich nicht von<lb/>
seinen lieben Gewohnheiten, sondern findet sie wieder. Man<lb/>
verlässt das alte Haus nicht, bevor das neue fertig ist. Es ziehen<lb/>
immer nur diejenigen, die sicher sind, ihre Lage dadurch zu<lb/>
verbessern. Erst die Verzweifelten, dann die Armen, dann die<lb/>
Wohlhabenden, dann die Reichen. Die Vorangegangenen erheben<lb/>
sich in die höhere Schichte, bis diese letztere ihre Angehörigen<lb/>
nachschickt. Die Wanderung ist zugleich eine aufsteigende<lb/>
Classenbewegung.<lb/></p>
        <p>Und hinter den abziehenden Juden entstehen keine wirthschaftlichen<lb/>
Störungen, keine Krisen und Verfolgungen, sondern<lb/>
es beginnt eine Periode der Wohlfahrt für die verlassenen<lb/>
Länder. Es tritt eine innere Wanderung der christlichen Staatsbürger<lb/>
in die aufgegebenen Positionen der Juden ein. Der<lb/>
Abfluss ist ein allmäliger, ohne jede Erschütterung, und schon<lb/>
sein Beginn ist das Ende des Antisemitismus. Die Juden scheiden<lb/>
als geachtete Freunde, und wenn Einzelne dann zurückkommen,<lb/>
wird man sie in den civilisirten Ländern genau so wohlwollend<lb/>
aufnehmen und behandeln, wie andere fremde Staatsangehörige.<lb/>
Diese Wanderung ist auch keine Flucht, sondern ein geordneter<lb/>
Zug unter der Controle der öffentlichen Meinung. Die Bewegung<lb/>
ist nicht nur mit vollkommen gesetzlichen Mitteln einzuleiten,<lb/>
sie kann überhaupt nur durchgeführt werden unter freundlicher<lb/>
Mitwirkung der betheiligten Regierungen, die davon wesentliche<lb/>
Vortheile haben.<lb/></p>
        <p>Für die Reinheit der Idee und die Kraft ihrer Ausführung<lb/>
sind Bürgschaften nöthig, die sich nur in sogenannten &#x201E;moralischen&#x201C;<lb/>
oder &#x201E;juristischen&#x201C; Personen finden lassen. Ich will<lb/>
diese beiden Bezeichnungen, die in der Juristensprache häufig<lb/>
verwechselt werden, auseinanderhalten. Als moralische Person,<lb/>
welche Subject von Rechten ausserhalb der Privat-Vermögenssphäre<lb/>
ist, stelle ich die Society of Jews auf. Daneben steht<lb/>
die juristische Person der Jewish Company, die ein Erwerbswesen<lb/>
ist.<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0016] Dazu muss vor Allem in den Seelen tabula rasa gemacht werden von mancherlei alten, überholten, verworrenen, beschränkten Vorstellungen. So werden dumpfe Gehirne zunächst meinen, dass die Wanderung aus der Cultur hinaus in die Wüste gehen müsse. Nicht wahr! Die Wanderung vollzieht sich mitten in der Cultur. Man kehrt nicht auf eine niedrigere Stufe zurück, sondern ersteigt eine höhere. Man bezieht keine Lehmhütten, sondern schönere, modernere Häuser, die man sich neu baut und ungefährdet besitzen darf. Man verliert nicht sein erworbenes Gut, sondern verwerthet es. Man gibt sein gutes Recht nur auf gegen ein besseres. Man trennt sich nicht von seinen lieben Gewohnheiten, sondern findet sie wieder. Man verlässt das alte Haus nicht, bevor das neue fertig ist. Es ziehen immer nur diejenigen, die sicher sind, ihre Lage dadurch zu verbessern. Erst die Verzweifelten, dann die Armen, dann die Wohlhabenden, dann die Reichen. Die Vorangegangenen erheben sich in die höhere Schichte, bis diese letztere ihre Angehörigen nachschickt. Die Wanderung ist zugleich eine aufsteigende Classenbewegung. Und hinter den abziehenden Juden entstehen keine wirthschaftlichen Störungen, keine Krisen und Verfolgungen, sondern es beginnt eine Periode der Wohlfahrt für die verlassenen Länder. Es tritt eine innere Wanderung der christlichen Staatsbürger in die aufgegebenen Positionen der Juden ein. Der Abfluss ist ein allmäliger, ohne jede Erschütterung, und schon sein Beginn ist das Ende des Antisemitismus. Die Juden scheiden als geachtete Freunde, und wenn Einzelne dann zurückkommen, wird man sie in den civilisirten Ländern genau so wohlwollend aufnehmen und behandeln, wie andere fremde Staatsangehörige. Diese Wanderung ist auch keine Flucht, sondern ein geordneter Zug unter der Controle der öffentlichen Meinung. Die Bewegung ist nicht nur mit vollkommen gesetzlichen Mitteln einzuleiten, sie kann überhaupt nur durchgeführt werden unter freundlicher Mitwirkung der betheiligten Regierungen, die davon wesentliche Vortheile haben. Für die Reinheit der Idee und die Kraft ihrer Ausführung sind Bürgschaften nöthig, die sich nur in sogenannten „moralischen“ oder „juristischen“ Personen finden lassen. Ich will diese beiden Bezeichnungen, die in der Juristensprache häufig verwechselt werden, auseinanderhalten. Als moralische Person, welche Subject von Rechten ausserhalb der Privat-Vermögenssphäre ist, stelle ich die Society of Jews auf. Daneben steht die juristische Person der Jewish Company, die ein Erwerbswesen ist.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

gutenberg.org: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in HTML. (2012-11-06T13:54:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus gutenberg.org entsprechen muss.
Austrian Literature Online: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-11-06T13:54:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von HTML nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-11-06T13:54:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurden übernommen.
  • Der Zeilenfall wurde beibehalten, die Silbentrennung aber wurde aufgehoben.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herzl_judenstaat_1896
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herzl_judenstaat_1896/16
Zitationshilfe: Herzl, Theodor: Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage. Leipzig u. a., 1896, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herzl_judenstaat_1896/16>, abgerufen am 26.04.2024.