Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Hoffmann, E. T. A.]: Nachtstücke. Bd. 1. Berlin, 1817.

Bild:
<< vorherige Seite

Abend abzureisen. Auf meinen Armen trage
ich das Kind bis in das nächste Dorf; dort
nehme ich dann ein Fuhrwerk." Bei diesen
Worten des Fremden riß Giorgina das Kind,
das er auf seinen Knien geschaukelt hatte, hastig
fort und drückte es an ihren Busen, indem ihr
die Thränen in die Augen traten. "Seht, lieber
Herr!" sprach Andres, "wie meine Frau Euch
auf Euern Vorschlag antwortet, und eben so bin
auch ich gesinnt. Eure Absicht mag recht gut
seyn; aber wie möget Ihr doch uns das Liebste
rauben wollen, das wir auf Erden besitzen? wie
möget Ihr doch das eine Last nennen, was unser
Leben aufheitern würde, wären wir auch noch in
der tiefsten Dürftigkeit, aus der uns Eure Güte
gerissen? "Seht, lieber Herr! Ihr sagtet selbst,
daß Ihr ohne Frau und ohne Kinder wäret; Euch
ist daher wohl die Seligkeit fremd, die gleichsam
aus der Glorie des offnen Himmelreichs herab¬
strömt auf Mann und Weib bei der Geburt
eines Kindes. Es ist ja die reinste Liebe und

H

Abend abzureiſen. Auf meinen Armen trage
ich das Kind bis in das naͤchſte Dorf; dort
nehme ich dann ein Fuhrwerk.“ Bei dieſen
Worten des Fremden riß Giorgina das Kind,
das er auf ſeinen Knien geſchaukelt hatte, haſtig
fort und druͤckte es an ihren Buſen, indem ihr
die Thraͤnen in die Augen traten. „Seht, lieber
Herr!“ ſprach Andres, „wie meine Frau Euch
auf Euern Vorſchlag antwortet, und eben ſo bin
auch ich geſinnt. Eure Abſicht mag recht gut
ſeyn; aber wie moͤget Ihr doch uns das Liebſte
rauben wollen, das wir auf Erden beſitzen? wie
moͤget Ihr doch das eine Laſt nennen, was unſer
Leben aufheitern wuͤrde, waͤren wir auch noch in
der tiefſten Duͤrftigkeit, aus der uns Eure Guͤte
geriſſen? „Seht, lieber Herr! Ihr ſagtet ſelbſt,
daß Ihr ohne Frau und ohne Kinder waͤret; Euch
iſt daher wohl die Seligkeit fremd, die gleichſam
aus der Glorie des offnen Himmelreichs herab¬
ſtroͤmt auf Mann und Weib bei der Geburt
eines Kindes. Es iſt ja die reinſte Liebe und

H
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0121" n="113"/>
Abend abzurei&#x017F;en. Auf meinen Armen trage<lb/>
ich das Kind bis in das na&#x0364;ch&#x017F;te Dorf; dort<lb/>
nehme ich dann ein Fuhrwerk.&#x201C; Bei die&#x017F;en<lb/>
Worten des Fremden riß <hi rendition="#g">Giorgina</hi> das Kind,<lb/>
das er auf &#x017F;einen Knien ge&#x017F;chaukelt hatte, ha&#x017F;tig<lb/>
fort und dru&#x0364;ckte es an ihren Bu&#x017F;en, indem ihr<lb/>
die Thra&#x0364;nen in die Augen traten. &#x201E;Seht, lieber<lb/>
Herr!&#x201C; &#x017F;prach <hi rendition="#g">Andres</hi>, &#x201E;wie meine Frau Euch<lb/>
auf Euern Vor&#x017F;chlag antwortet, und eben &#x017F;o bin<lb/>
auch ich ge&#x017F;innt. Eure Ab&#x017F;icht mag recht gut<lb/>
&#x017F;eyn; aber wie mo&#x0364;get Ihr doch uns das Lieb&#x017F;te<lb/>
rauben wollen, das wir auf Erden be&#x017F;itzen? wie<lb/>
mo&#x0364;get Ihr doch das eine La&#x017F;t nennen, was un&#x017F;er<lb/>
Leben aufheitern wu&#x0364;rde, wa&#x0364;ren wir auch noch in<lb/>
der tief&#x017F;ten Du&#x0364;rftigkeit, aus der uns Eure Gu&#x0364;te<lb/>
geri&#x017F;&#x017F;en? &#x201E;Seht, lieber Herr! Ihr &#x017F;agtet &#x017F;elb&#x017F;t,<lb/>
daß Ihr ohne Frau und ohne Kinder wa&#x0364;ret; Euch<lb/>
i&#x017F;t daher wohl die Seligkeit fremd, die gleich&#x017F;am<lb/>
aus der Glorie des offnen Himmelreichs herab¬<lb/>
&#x017F;tro&#x0364;mt auf Mann und Weib bei der Geburt<lb/>
eines Kindes. Es i&#x017F;t ja die rein&#x017F;te Liebe und<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">H<lb/></fw>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[113/0121] Abend abzureiſen. Auf meinen Armen trage ich das Kind bis in das naͤchſte Dorf; dort nehme ich dann ein Fuhrwerk.“ Bei dieſen Worten des Fremden riß Giorgina das Kind, das er auf ſeinen Knien geſchaukelt hatte, haſtig fort und druͤckte es an ihren Buſen, indem ihr die Thraͤnen in die Augen traten. „Seht, lieber Herr!“ ſprach Andres, „wie meine Frau Euch auf Euern Vorſchlag antwortet, und eben ſo bin auch ich geſinnt. Eure Abſicht mag recht gut ſeyn; aber wie moͤget Ihr doch uns das Liebſte rauben wollen, das wir auf Erden beſitzen? wie moͤget Ihr doch das eine Laſt nennen, was unſer Leben aufheitern wuͤrde, waͤren wir auch noch in der tiefſten Duͤrftigkeit, aus der uns Eure Guͤte geriſſen? „Seht, lieber Herr! Ihr ſagtet ſelbſt, daß Ihr ohne Frau und ohne Kinder waͤret; Euch iſt daher wohl die Seligkeit fremd, die gleichſam aus der Glorie des offnen Himmelreichs herab¬ ſtroͤmt auf Mann und Weib bei der Geburt eines Kindes. Es iſt ja die reinſte Liebe und H

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/hoffmann_nachtstuecke01_1817
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/hoffmann_nachtstuecke01_1817/121
Zitationshilfe: [Hoffmann, E. T. A.]: Nachtstücke. Bd. 1. Berlin, 1817, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hoffmann_nachtstuecke01_1817/121>, abgerufen am 05.05.2024.