Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Hoffmann, E. T. A.]: Nachtstücke. Bd. 2. Berlin, 1817.

Bild:
<< vorherige Seite

Der alte Großonkel schwieg, ich schied von ihm
mit zerrissenem Herzen, und nur die Alles beschwich¬
tigende Zeit konnte den tiefen Schmerz lindern, in
dem ich vergehen zu müssen glaubte.

Jahre waren vergangen. V. ruhte längst im Grabe,
ich hatte mein Vaterland verlassen. Da trieb mich
der Sturm des Krieges, der verwüstend über ganz
Deutschland hinbrauste, in den Norden hinein, fort
nach Petersburg. Auf der Rückreise, nicht mehr
weit von K., fuhr ich in einer finstern Sommer¬
nacht dem Gestade der Ostsee entlang, als ich vor
mir am Himmel einen großen funkelnden Stern er¬
blickte. Näher gekommen gewahrte ich wohl an
der rothen flackernden Flamme, daß das, was ich
für einen Stern gehalten, ein starkes Feuer seyn
müsse, ohne zu begreifen, wie es so hoch in den
Lüften schweben könne. "Schwager! was ist das
für ein Feuer, dort vor uns?" frug ich den Po¬
stillion. "Ei," erwiederte dieser, "ei, das ist kein
Feuer, das ist der Leuchtthurm von R..sitten."
R..sitten! -- so wie der Postillion den Na¬

Der alte Großonkel ſchwieg, ich ſchied von ihm
mit zerriſſenem Herzen, und nur die Alles beſchwich¬
tigende Zeit konnte den tiefen Schmerz lindern, in
dem ich vergehen zu muͤſſen glaubte.

Jahre waren vergangen. V. ruhte laͤngſt im Grabe,
ich hatte mein Vaterland verlaſſen. Da trieb mich
der Sturm des Krieges, der verwuͤſtend uͤber ganz
Deutſchland hinbrauſte, in den Norden hinein, fort
nach Petersburg. Auf der Ruͤckreiſe, nicht mehr
weit von K., fuhr ich in einer finſtern Sommer¬
nacht dem Geſtade der Oſtſee entlang, als ich vor
mir am Himmel einen großen funkelnden Stern er¬
blickte. Naͤher gekommen gewahrte ich wohl an
der rothen flackernden Flamme, daß das, was ich
fuͤr einen Stern gehalten, ein ſtarkes Feuer ſeyn
muͤſſe, ohne zu begreifen, wie es ſo hoch in den
Luͤften ſchweben koͤnne. „Schwager! was iſt das
fuͤr ein Feuer, dort vor uns?“ frug ich den Po¬
ſtillion. „Ei,“ erwiederte dieſer, „ei, das iſt kein
Feuer, das iſt der Leuchtthurm von R..ſitten.“
R..ſitten! — ſo wie der Poſtillion den Na¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0259" n="251"/>
        <p>Der alte Großonkel &#x017F;chwieg, ich &#x017F;chied von ihm<lb/>
mit zerri&#x017F;&#x017F;enem Herzen, und nur die Alles be&#x017F;chwich¬<lb/>
tigende Zeit konnte den tiefen Schmerz lindern, in<lb/>
dem ich vergehen zu mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en glaubte.</p><lb/>
        <p>Jahre waren vergangen. V. ruhte la&#x0364;ng&#x017F;t im Grabe,<lb/>
ich hatte mein Vaterland verla&#x017F;&#x017F;en. Da trieb mich<lb/>
der Sturm des Krieges, der verwu&#x0364;&#x017F;tend u&#x0364;ber ganz<lb/>
Deut&#x017F;chland hinbrau&#x017F;te, in den Norden hinein, fort<lb/>
nach Petersburg. Auf der Ru&#x0364;ckrei&#x017F;e, nicht mehr<lb/>
weit von K., fuhr ich in einer fin&#x017F;tern Sommer¬<lb/>
nacht dem Ge&#x017F;tade der O&#x017F;t&#x017F;ee entlang, als ich vor<lb/>
mir am Himmel einen großen funkelnden Stern er¬<lb/>
blickte. Na&#x0364;her gekommen gewahrte ich wohl an<lb/>
der rothen flackernden Flamme, daß das, was ich<lb/>
fu&#x0364;r einen Stern gehalten, ein &#x017F;tarkes Feuer &#x017F;eyn<lb/>
mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e, ohne zu begreifen, wie es &#x017F;o hoch in den<lb/>
Lu&#x0364;ften &#x017F;chweben ko&#x0364;nne. &#x201E;Schwager! was i&#x017F;t das<lb/>
fu&#x0364;r ein Feuer, dort vor uns?&#x201C; frug ich den Po¬<lb/>
&#x017F;tillion. &#x201E;Ei,&#x201C; erwiederte die&#x017F;er, &#x201E;ei, das i&#x017F;t kein<lb/>
Feuer, das i&#x017F;t der Leuchtthurm von R..&#x017F;itten.&#x201C;<lb/>
R..&#x017F;itten! &#x2014; &#x017F;o wie der Po&#x017F;tillion den Na¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[251/0259] Der alte Großonkel ſchwieg, ich ſchied von ihm mit zerriſſenem Herzen, und nur die Alles beſchwich¬ tigende Zeit konnte den tiefen Schmerz lindern, in dem ich vergehen zu muͤſſen glaubte. Jahre waren vergangen. V. ruhte laͤngſt im Grabe, ich hatte mein Vaterland verlaſſen. Da trieb mich der Sturm des Krieges, der verwuͤſtend uͤber ganz Deutſchland hinbrauſte, in den Norden hinein, fort nach Petersburg. Auf der Ruͤckreiſe, nicht mehr weit von K., fuhr ich in einer finſtern Sommer¬ nacht dem Geſtade der Oſtſee entlang, als ich vor mir am Himmel einen großen funkelnden Stern er¬ blickte. Naͤher gekommen gewahrte ich wohl an der rothen flackernden Flamme, daß das, was ich fuͤr einen Stern gehalten, ein ſtarkes Feuer ſeyn muͤſſe, ohne zu begreifen, wie es ſo hoch in den Luͤften ſchweben koͤnne. „Schwager! was iſt das fuͤr ein Feuer, dort vor uns?“ frug ich den Po¬ ſtillion. „Ei,“ erwiederte dieſer, „ei, das iſt kein Feuer, das iſt der Leuchtthurm von R..ſitten.“ R..ſitten! — ſo wie der Poſtillion den Na¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/hoffmann_nachtstuecke02_1817
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/hoffmann_nachtstuecke02_1817/259
Zitationshilfe: [Hoffmann, E. T. A.]: Nachtstücke. Bd. 2. Berlin, 1817, S. 251. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hoffmann_nachtstuecke02_1817/259>, abgerufen am 25.05.2024.