Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851.

Bild:
<< vorherige Seite

sich führte. Denn wie verschieden auch sehr natürlich der Ein-
fluss von eigentlichem Zwange, blosser Aufforderung, und
endlich blosser Verschaffung leichterer Gelegenheit zu Beschäf-
tigung mit Religionsideen ist; so ist doch selbst in dieser letz-
teren, wie im Vorigen bei mehreren ähnlichen Einrichtungen
ausführlicher zu zeigen versucht worden ist, immer ein gewisses,
die Freiheit einengendes Uebergewicht der Vorstellungsart des
Staats. Diese Bemerkungen habe ich vorausschicken zu müssen
geglaubt, um bei der folgenden Untersuchung dem Einwurfe
zu begegnen, dass dieselbe nicht von der Sorgfalt für die Beför-
derung der Religion überhaupt, sondern nur von einzelnen
Gattungen derselben rede, und um dieselbe nicht durch eine
ängstliche Durchgehung der einzelnen möglichen Fälle zu sehr
zerstückeln zu dürfen.

Alle Religion -- und zwar rede ich hier von Religion, inso-
fern sie sich auf Sittlichkeit und Glückseligkeit bezieht, und
folglich in Gefühl übergegangen ist, nicht insofern die Ver-
nunft irgend eine Religionswahrheit wirklich erkennt, oder zu
erkennen meint, da Einsicht der Wahrheit unabhängig ist von
allen Einflüssen des Wollens oder Begehrens, oder insofern
Offenbarung irgend eine bekräftigt, da auch der historische
Glaube dergleichen Einflüssen nicht unterworfen sein darf --
alle Religion, sage ich, beruht auf einem Bedürfniss der Seele.
Wir hoffen, wir ahnden, weil wir wünschen. Da, wo noch alle
Spur geistiger Kultur fehlt, ist auch das Bedürfniss bloss sinn-
lich. Furcht und Hoffnung bei Naturbegebenheiten, welche die
Einbildungskraft in selbstthätige Wesen verwandelt, machen
den Inbegriff der ganzen Religion aus. Wo geistige Kultur
anfängt, genügt dies nicht mehr. Die Seele sehnt sich dann
nach dem Anschauen einer Vollkommenheit, von der ein Funke
in ihr glimmt, von der sie aber ein weit höheres Maass ausser
sich ahndet. Dies Anschauen geht in Bewunderung, und wenn
der Mensch sich ein Verhältniss zu jenem Wesen hinzudenkt,

sich führte. Denn wie verschieden auch sehr natürlich der Ein-
fluss von eigentlichem Zwange, blosser Aufforderung, und
endlich blosser Verschaffung leichterer Gelegenheit zu Beschäf-
tigung mit Religionsideen ist; so ist doch selbst in dieser letz-
teren, wie im Vorigen bei mehreren ähnlichen Einrichtungen
ausführlicher zu zeigen versucht worden ist, immer ein gewisses,
die Freiheit einengendes Uebergewicht der Vorstellungsart des
Staats. Diese Bemerkungen habe ich vorausschicken zu müssen
geglaubt, um bei der folgenden Untersuchung dem Einwurfe
zu begegnen, dass dieselbe nicht von der Sorgfalt für die Beför-
derung der Religion überhaupt, sondern nur von einzelnen
Gattungen derselben rede, und um dieselbe nicht durch eine
ängstliche Durchgehung der einzelnen möglichen Fälle zu sehr
zerstückeln zu dürfen.

Alle Religion — und zwar rede ich hier von Religion, inso-
fern sie sich auf Sittlichkeit und Glückseligkeit bezieht, und
folglich in Gefühl übergegangen ist, nicht insofern die Ver-
nunft irgend eine Religionswahrheit wirklich erkennt, oder zu
erkennen meint, da Einsicht der Wahrheit unabhängig ist von
allen Einflüssen des Wollens oder Begehrens, oder insofern
Offenbarung irgend eine bekräftigt, da auch der historische
Glaube dergleichen Einflüssen nicht unterworfen sein darf —
alle Religion, sage ich, beruht auf einem Bedürfniss der Seele.
Wir hoffen, wir ahnden, weil wir wünschen. Da, wo noch alle
Spur geistiger Kultur fehlt, ist auch das Bedürfniss bloss sinn-
lich. Furcht und Hoffnung bei Naturbegebenheiten, welche die
Einbildungskraft in selbstthätige Wesen verwandelt, machen
den Inbegriff der ganzen Religion aus. Wo geistige Kultur
anfängt, genügt dies nicht mehr. Die Seele sehnt sich dann
nach dem Anschauen einer Vollkommenheit, von der ein Funke
in ihr glimmt, von der sie aber ein weit höheres Maass ausser
sich ahndet. Dies Anschauen geht in Bewunderung, und wenn
der Mensch sich ein Verhältniss zu jenem Wesen hinzudenkt,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0100" n="64"/>
sich führte. Denn wie verschieden auch sehr natürlich der Ein-<lb/>
fluss von eigentlichem Zwange, blosser Aufforderung, und<lb/>
endlich blosser Verschaffung leichterer Gelegenheit zu Beschäf-<lb/>
tigung mit Religionsideen ist; so ist doch selbst in dieser letz-<lb/>
teren, wie im Vorigen bei mehreren ähnlichen Einrichtungen<lb/>
ausführlicher zu zeigen versucht worden ist, immer ein gewisses,<lb/>
die Freiheit einengendes Uebergewicht der Vorstellungsart des<lb/>
Staats. Diese Bemerkungen habe ich vorausschicken zu müssen<lb/>
geglaubt, um bei der folgenden Untersuchung dem Einwurfe<lb/>
zu begegnen, dass dieselbe nicht von der Sorgfalt für die Beför-<lb/>
derung der Religion überhaupt, sondern nur von einzelnen<lb/>
Gattungen derselben rede, und um dieselbe nicht durch eine<lb/>
ängstliche Durchgehung der einzelnen möglichen Fälle zu sehr<lb/>
zerstückeln zu dürfen.</p><lb/>
        <p>Alle Religion &#x2014; und zwar rede ich hier von Religion, inso-<lb/>
fern sie sich auf Sittlichkeit und Glückseligkeit bezieht, und<lb/>
folglich in Gefühl übergegangen ist, nicht insofern die Ver-<lb/>
nunft irgend eine Religionswahrheit wirklich erkennt, oder zu<lb/>
erkennen meint, da Einsicht der Wahrheit unabhängig ist von<lb/>
allen Einflüssen des Wollens oder Begehrens, oder insofern<lb/>
Offenbarung irgend eine bekräftigt, da auch der historische<lb/>
Glaube dergleichen Einflüssen nicht unterworfen sein darf &#x2014;<lb/>
alle Religion, sage ich, beruht auf einem Bedürfniss der Seele.<lb/>
Wir hoffen, wir ahnden, weil wir wünschen. Da, wo noch alle<lb/>
Spur geistiger Kultur fehlt, ist auch das Bedürfniss bloss sinn-<lb/>
lich. Furcht und Hoffnung bei Naturbegebenheiten, welche die<lb/>
Einbildungskraft in selbstthätige Wesen verwandelt, machen<lb/>
den Inbegriff der ganzen Religion aus. Wo geistige Kultur<lb/>
anfängt, genügt dies nicht mehr. Die Seele sehnt sich dann<lb/>
nach dem Anschauen einer Vollkommenheit, von der ein Funke<lb/>
in ihr glimmt, von der sie aber ein weit höheres Maass ausser<lb/>
sich ahndet. Dies Anschauen geht in Bewunderung, und wenn<lb/>
der Mensch sich ein Verhältniss zu jenem Wesen hinzudenkt,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[64/0100] sich führte. Denn wie verschieden auch sehr natürlich der Ein- fluss von eigentlichem Zwange, blosser Aufforderung, und endlich blosser Verschaffung leichterer Gelegenheit zu Beschäf- tigung mit Religionsideen ist; so ist doch selbst in dieser letz- teren, wie im Vorigen bei mehreren ähnlichen Einrichtungen ausführlicher zu zeigen versucht worden ist, immer ein gewisses, die Freiheit einengendes Uebergewicht der Vorstellungsart des Staats. Diese Bemerkungen habe ich vorausschicken zu müssen geglaubt, um bei der folgenden Untersuchung dem Einwurfe zu begegnen, dass dieselbe nicht von der Sorgfalt für die Beför- derung der Religion überhaupt, sondern nur von einzelnen Gattungen derselben rede, und um dieselbe nicht durch eine ängstliche Durchgehung der einzelnen möglichen Fälle zu sehr zerstückeln zu dürfen. Alle Religion — und zwar rede ich hier von Religion, inso- fern sie sich auf Sittlichkeit und Glückseligkeit bezieht, und folglich in Gefühl übergegangen ist, nicht insofern die Ver- nunft irgend eine Religionswahrheit wirklich erkennt, oder zu erkennen meint, da Einsicht der Wahrheit unabhängig ist von allen Einflüssen des Wollens oder Begehrens, oder insofern Offenbarung irgend eine bekräftigt, da auch der historische Glaube dergleichen Einflüssen nicht unterworfen sein darf — alle Religion, sage ich, beruht auf einem Bedürfniss der Seele. Wir hoffen, wir ahnden, weil wir wünschen. Da, wo noch alle Spur geistiger Kultur fehlt, ist auch das Bedürfniss bloss sinn- lich. Furcht und Hoffnung bei Naturbegebenheiten, welche die Einbildungskraft in selbstthätige Wesen verwandelt, machen den Inbegriff der ganzen Religion aus. Wo geistige Kultur anfängt, genügt dies nicht mehr. Die Seele sehnt sich dann nach dem Anschauen einer Vollkommenheit, von der ein Funke in ihr glimmt, von der sie aber ein weit höheres Maass ausser sich ahndet. Dies Anschauen geht in Bewunderung, und wenn der Mensch sich ein Verhältniss zu jenem Wesen hinzudenkt,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Wilhelm von Humboldt schrieb seine 'Ideen zu eine… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_grenzen_1851
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_grenzen_1851/100
Zitationshilfe: Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_grenzen_1851/100>, abgerufen am 06.05.2024.