Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851.

Bild:
<< vorherige Seite

stehen zu bleiben? Wenn nun alle Religiösität so gänzlich auf
den mannigfaltigen Modifikationen des Charakters und vor-
züglich des Gefühls beruht; so muss auch ihr Einfluss auf die
Sittlichkeit ganz und gar nicht von der Materie gleichsam des
Inhalts der angenommenen Sätze, sondern von der Form des
Annehmens, der Ueberzeugung, des Glaubens abhängig sein.
Diese Bemerkung, die mir gleich in der Folge von grossem
Nutzen sein wird, hoffe ich durch das Bisherige hinlänglich
gerechtfertigt zu haben. Was ich vielleicht allein hier noch
fürchten darf, ist der Vorwurf, in allem, was ich sagte, nur den
sehr von der Natur und den Umständen begünstigten, interes-
santen, und eben darum seltenen Menschen vor Augen gehabt
zu haben. Allein die Folge wird, hoffe ich, zeigen, dass ich
den freilich grösseren Haufen keineswegs übersehe, und es
scheint mir unedel, überall da, wo es der Mensch ist, welcher
die Untersuchung beschäftigt, nicht aus den höchsten Gesichts-
punkten auszugehen.

Kehre ich jetzt -- nach diesem allgemeinen, auf die Religion
und ihren Einfluss im Leben geworfenen Blick -- auf die Frage
zurück, ob der Staat durch die Religion auf die Sitten der Bür-
ger wirken darf oder nicht? so ist es gewiss, dass die Mittel,
welche der Gesetzgeber zum Behuf der moralischen Bildung
anwendet, immer in dem Grade nützlich und zweckmässig sind,
in welchem sie die innere Entwickelung der Fähigkeiten und
Neigungen begünstigen. Denn alle Bildung hat ihren Ursprung
allein in dem Innern der Seele, und kann durch äussere Veran-
staltungen nur veranlasst, nie hervorgebracht werden. Dass
nun die Religion, welche ganz auf Ideen, Empfindungen und
innerer Ueberzeugung beruht, ein solches Mittel sei, ist unläug-
bar. Wir bilden den Künstler, indem wir sein Auge an den
Meisterwerken der Kunst üben, seine Einbildungskraft mit den
schönen Gestalten der Produkte des Alterthums nähren. Ebenso
muss der sittliche Mensch gebildet werden durch das Anschauen

stehen zu bleiben? Wenn nun alle Religiösität so gänzlich auf
den mannigfaltigen Modifikationen des Charakters und vor-
züglich des Gefühls beruht; so muss auch ihr Einfluss auf die
Sittlichkeit ganz und gar nicht von der Materie gleichsam des
Inhalts der angenommenen Sätze, sondern von der Form des
Annehmens, der Ueberzeugung, des Glaubens abhängig sein.
Diese Bemerkung, die mir gleich in der Folge von grossem
Nutzen sein wird, hoffe ich durch das Bisherige hinlänglich
gerechtfertigt zu haben. Was ich vielleicht allein hier noch
fürchten darf, ist der Vorwurf, in allem, was ich sagte, nur den
sehr von der Natur und den Umständen begünstigten, interes-
santen, und eben darum seltenen Menschen vor Augen gehabt
zu haben. Allein die Folge wird, hoffe ich, zeigen, dass ich
den freilich grösseren Haufen keineswegs übersehe, und es
scheint mir unedel, überall da, wo es der Mensch ist, welcher
die Untersuchung beschäftigt, nicht aus den höchsten Gesichts-
punkten auszugehen.

Kehre ich jetzt — nach diesem allgemeinen, auf die Religion
und ihren Einfluss im Leben geworfenen Blick — auf die Frage
zurück, ob der Staat durch die Religion auf die Sitten der Bür-
ger wirken darf oder nicht? so ist es gewiss, dass die Mittel,
welche der Gesetzgeber zum Behuf der moralischen Bildung
anwendet, immer in dem Grade nützlich und zweckmässig sind,
in welchem sie die innere Entwickelung der Fähigkeiten und
Neigungen begünstigen. Denn alle Bildung hat ihren Ursprung
allein in dem Innern der Seele, und kann durch äussere Veran-
staltungen nur veranlasst, nie hervorgebracht werden. Dass
nun die Religion, welche ganz auf Ideen, Empfindungen und
innerer Ueberzeugung beruht, ein solches Mittel sei, ist unläug-
bar. Wir bilden den Künstler, indem wir sein Auge an den
Meisterwerken der Kunst üben, seine Einbildungskraft mit den
schönen Gestalten der Produkte des Alterthums nähren. Ebenso
muss der sittliche Mensch gebildet werden durch das Anschauen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0109" n="73"/>
stehen zu bleiben? Wenn nun alle Religiösität so gänzlich auf<lb/>
den mannigfaltigen Modifikationen des Charakters und vor-<lb/>
züglich des Gefühls beruht; so muss auch ihr Einfluss auf die<lb/>
Sittlichkeit ganz und gar nicht von der Materie gleichsam des<lb/>
Inhalts der angenommenen Sätze, sondern von der Form des<lb/>
Annehmens, der Ueberzeugung, des Glaubens abhängig sein.<lb/>
Diese Bemerkung, die mir gleich in der Folge von grossem<lb/>
Nutzen sein wird, hoffe ich durch das Bisherige hinlänglich<lb/>
gerechtfertigt zu haben. Was ich vielleicht allein hier noch<lb/>
fürchten darf, ist der Vorwurf, in allem, was ich sagte, nur den<lb/>
sehr von der Natur und den Umständen begünstigten, interes-<lb/>
santen, und eben darum seltenen Menschen vor Augen gehabt<lb/>
zu haben. Allein die Folge wird, hoffe ich, zeigen, dass ich<lb/>
den freilich grösseren Haufen keineswegs übersehe, und es<lb/>
scheint mir unedel, überall da, wo es der Mensch ist, welcher<lb/>
die Untersuchung beschäftigt, nicht aus den höchsten Gesichts-<lb/>
punkten auszugehen.</p><lb/>
        <p>Kehre ich jetzt &#x2014; nach diesem allgemeinen, auf die Religion<lb/>
und ihren Einfluss im Leben geworfenen Blick &#x2014; auf die Frage<lb/>
zurück, ob der Staat durch die Religion auf die Sitten der Bür-<lb/>
ger wirken darf oder nicht? so ist es gewiss, dass die Mittel,<lb/>
welche der Gesetzgeber zum Behuf der moralischen Bildung<lb/>
anwendet, immer in dem Grade nützlich und zweckmässig sind,<lb/>
in welchem sie die innere Entwickelung der Fähigkeiten und<lb/>
Neigungen begünstigen. Denn alle Bildung hat ihren Ursprung<lb/>
allein in dem Innern der Seele, und kann durch äussere Veran-<lb/>
staltungen nur veranlasst, nie hervorgebracht werden. Dass<lb/>
nun die Religion, welche ganz auf Ideen, Empfindungen und<lb/>
innerer Ueberzeugung beruht, ein solches Mittel sei, ist unläug-<lb/>
bar. Wir bilden den Künstler, indem wir sein Auge an den<lb/>
Meisterwerken der Kunst üben, seine Einbildungskraft mit den<lb/>
schönen Gestalten der Produkte des Alterthums nähren. Ebenso<lb/>
muss der sittliche Mensch gebildet werden durch das Anschauen<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[73/0109] stehen zu bleiben? Wenn nun alle Religiösität so gänzlich auf den mannigfaltigen Modifikationen des Charakters und vor- züglich des Gefühls beruht; so muss auch ihr Einfluss auf die Sittlichkeit ganz und gar nicht von der Materie gleichsam des Inhalts der angenommenen Sätze, sondern von der Form des Annehmens, der Ueberzeugung, des Glaubens abhängig sein. Diese Bemerkung, die mir gleich in der Folge von grossem Nutzen sein wird, hoffe ich durch das Bisherige hinlänglich gerechtfertigt zu haben. Was ich vielleicht allein hier noch fürchten darf, ist der Vorwurf, in allem, was ich sagte, nur den sehr von der Natur und den Umständen begünstigten, interes- santen, und eben darum seltenen Menschen vor Augen gehabt zu haben. Allein die Folge wird, hoffe ich, zeigen, dass ich den freilich grösseren Haufen keineswegs übersehe, und es scheint mir unedel, überall da, wo es der Mensch ist, welcher die Untersuchung beschäftigt, nicht aus den höchsten Gesichts- punkten auszugehen. Kehre ich jetzt — nach diesem allgemeinen, auf die Religion und ihren Einfluss im Leben geworfenen Blick — auf die Frage zurück, ob der Staat durch die Religion auf die Sitten der Bür- ger wirken darf oder nicht? so ist es gewiss, dass die Mittel, welche der Gesetzgeber zum Behuf der moralischen Bildung anwendet, immer in dem Grade nützlich und zweckmässig sind, in welchem sie die innere Entwickelung der Fähigkeiten und Neigungen begünstigen. Denn alle Bildung hat ihren Ursprung allein in dem Innern der Seele, und kann durch äussere Veran- staltungen nur veranlasst, nie hervorgebracht werden. Dass nun die Religion, welche ganz auf Ideen, Empfindungen und innerer Ueberzeugung beruht, ein solches Mittel sei, ist unläug- bar. Wir bilden den Künstler, indem wir sein Auge an den Meisterwerken der Kunst üben, seine Einbildungskraft mit den schönen Gestalten der Produkte des Alterthums nähren. Ebenso muss der sittliche Mensch gebildet werden durch das Anschauen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Wilhelm von Humboldt schrieb seine 'Ideen zu eine… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_grenzen_1851
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_grenzen_1851/109
Zitationshilfe: Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_grenzen_1851/109>, abgerufen am 04.05.2024.