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Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851.

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virten Nationen hat folglich die Gerichtsverfassung einen sehr
wichtigen Einfluss auf die Gesetzgebung gehabt, der sich sehr
oft bei weitem nicht auf blosse Formalitäten beschränkt. Ich
erinnere hier, statt eines Beispiels, an die Römische Lehre von
Pakten und Kontrakten, die wie wenig sie auch bisher noch
aufgeklärt ist, schwerlich aus einem andern Gesichtspunkt an-
gesehen werden darf. Diesen Einfluss in verschiedenen Gesetz-
gebungen verschiedner Zeitalter und Nationen zu erforschen,
dürfte nicht blos aus vielen andren Gründen, aber auch vorzüg-
lich in der Hinsicht nützlich sein, um daraus zu beurtheilen,
welche solcher Gesetze wohl allgemein nothwendig, welche nur
in Lokalverhältnissen gegründet sein möchten? Denn alle Ein-
schränkungen dieser Art aufzuheben, dürfte -- auch die Mög-
lichkeit angenommen -- schwerlich rathsam sein. Denn ein-
mal wird die Möglichkeit von Betrügereien, z. B. von Unter-
schiebung falscher Dokumente u. s. f. zu wenig erschwert;
dann werden die Prozesse vervielfältigt, oder, da dies vielleicht
an sich noch kein Uebel scheint, die Gelegenheiten durch erregte
unnütze Streitigkeiten die Ruhe andrer zu stören zu mannig-
faltig. Nun aber ist gerade die Streitsucht, welche sich durch
Prozesse äussert, diejenige, welche -- den Schaden noch abge-
rechnet, den sie dem Vermögen, der Zeit, und der Gemüthsruhe
der Bürger zufügt -- auch auf den Charakter den nachtheilig-
sten Einfluss hat, und gerade durch gar keine nützliche Folgen
für diese Nachtheile entschädigt. Der Schade der Förmlich-
keiten hingegen ist die Erschwerung der Geschäfte, und die
Einschränkung der Freiheit, die in jedem Verhältniss bedenklich
ist. Das Gesetz muss daher auch hier einen Mittelweg ein-
schlagen, Förmlichkeiten nie aus einem andern Gesichtspunkte
anordnen, als um die Gültigkeit der Geschäfte zu sichern, und
Betrügereien zu verhindern, oder den Beweis zu erleichtern;
selbst in dieser Absicht dieselben nur da fordern, wo sie den
individuellen Umständen nach nothwendig sind, wo ohne sie

virten Nationen hat folglich die Gerichtsverfassung einen sehr
wichtigen Einfluss auf die Gesetzgebung gehabt, der sich sehr
oft bei weitem nicht auf blosse Formalitäten beschränkt. Ich
erinnere hier, statt eines Beispiels, an die Römische Lehre von
Pakten und Kontrakten, die wie wenig sie auch bisher noch
aufgeklärt ist, schwerlich aus einem andern Gesichtspunkt an-
gesehen werden darf. Diesen Einfluss in verschiedenen Gesetz-
gebungen verschiedner Zeitalter und Nationen zu erforschen,
dürfte nicht blos aus vielen andren Gründen, aber auch vorzüg-
lich in der Hinsicht nützlich sein, um daraus zu beurtheilen,
welche solcher Gesetze wohl allgemein nothwendig, welche nur
in Lokalverhältnissen gegründet sein möchten? Denn alle Ein-
schränkungen dieser Art aufzuheben, dürfte — auch die Mög-
lichkeit angenommen — schwerlich rathsam sein. Denn ein-
mal wird die Möglichkeit von Betrügereien, z. B. von Unter-
schiebung falscher Dokumente u. s. f. zu wenig erschwert;
dann werden die Prozesse vervielfältigt, oder, da dies vielleicht
an sich noch kein Uebel scheint, die Gelegenheiten durch erregte
unnütze Streitigkeiten die Ruhe andrer zu stören zu mannig-
faltig. Nun aber ist gerade die Streitsucht, welche sich durch
Prozesse äussert, diejenige, welche — den Schaden noch abge-
rechnet, den sie dem Vermögen, der Zeit, und der Gemüthsruhe
der Bürger zufügt — auch auf den Charakter den nachtheilig-
sten Einfluss hat, und gerade durch gar keine nützliche Folgen
für diese Nachtheile entschädigt. Der Schade der Förmlich-
keiten hingegen ist die Erschwerung der Geschäfte, und die
Einschränkung der Freiheit, die in jedem Verhältniss bedenklich
ist. Das Gesetz muss daher auch hier einen Mittelweg ein-
schlagen, Förmlichkeiten nie aus einem andern Gesichtspunkte
anordnen, als um die Gültigkeit der Geschäfte zu sichern, und
Betrügereien zu verhindern, oder den Beweis zu erleichtern;
selbst in dieser Absicht dieselben nur da fordern, wo sie den
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[136/0172] virten Nationen hat folglich die Gerichtsverfassung einen sehr wichtigen Einfluss auf die Gesetzgebung gehabt, der sich sehr oft bei weitem nicht auf blosse Formalitäten beschränkt. Ich erinnere hier, statt eines Beispiels, an die Römische Lehre von Pakten und Kontrakten, die wie wenig sie auch bisher noch aufgeklärt ist, schwerlich aus einem andern Gesichtspunkt an- gesehen werden darf. Diesen Einfluss in verschiedenen Gesetz- gebungen verschiedner Zeitalter und Nationen zu erforschen, dürfte nicht blos aus vielen andren Gründen, aber auch vorzüg- lich in der Hinsicht nützlich sein, um daraus zu beurtheilen, welche solcher Gesetze wohl allgemein nothwendig, welche nur in Lokalverhältnissen gegründet sein möchten? Denn alle Ein- schränkungen dieser Art aufzuheben, dürfte — auch die Mög- lichkeit angenommen — schwerlich rathsam sein. Denn ein- mal wird die Möglichkeit von Betrügereien, z. B. von Unter- schiebung falscher Dokumente u. s. f. zu wenig erschwert; dann werden die Prozesse vervielfältigt, oder, da dies vielleicht an sich noch kein Uebel scheint, die Gelegenheiten durch erregte unnütze Streitigkeiten die Ruhe andrer zu stören zu mannig- faltig. Nun aber ist gerade die Streitsucht, welche sich durch Prozesse äussert, diejenige, welche — den Schaden noch abge- rechnet, den sie dem Vermögen, der Zeit, und der Gemüthsruhe der Bürger zufügt — auch auf den Charakter den nachtheilig- sten Einfluss hat, und gerade durch gar keine nützliche Folgen für diese Nachtheile entschädigt. Der Schade der Förmlich- keiten hingegen ist die Erschwerung der Geschäfte, und die Einschränkung der Freiheit, die in jedem Verhältniss bedenklich ist. Das Gesetz muss daher auch hier einen Mittelweg ein- schlagen, Förmlichkeiten nie aus einem andern Gesichtspunkte anordnen, als um die Gültigkeit der Geschäfte zu sichern, und Betrügereien zu verhindern, oder den Beweis zu erleichtern; selbst in dieser Absicht dieselben nur da fordern, wo sie den individuellen Umständen nach nothwendig sind, wo ohne sie

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Zitationshilfe: Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_grenzen_1851/172>, abgerufen am 29.04.2024.