Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.

Bild:
<< vorherige Seite

vorragenden Holzstock, auf welchem sich kleine Marionetten be¬
wegten, ferner in einem halb mit Wasser angefüllten Glas¬
napfe ein schönes Kind, welches nach einem andern eben so
schönen die Hand ausstreckte. Eine Zeit lang kam ihm seine
Bettdecke wie ein marmorner Sarkophag vor, auf welchem
Hautreliefs in mannigfach scharf ausgeprägten Gebilden, na¬
mentlich Menschengestalten dargestellt waren. An einem Abende
wollte er ein großes, wunderbares Schattenspiel an der Wand
produciren, denn er glaubte den Zauberspiegel Salomos zu
besitzen, mit dessen Hülfe er alles Denkbare und Undenkbare
ausführen könne. Ferner stieg die Vorstellung in ihm auf,
daß er der neugeborene Sohn einer Königin sei, daß bei sei¬
ner Geburt sämmtliche Planeten in eine gerade Linie zur
Sonne getreten, und daß eine alte königliche Familienuhr wie¬
der in Gang gekommen sei, deren Bewegung er in der nahen
Wand zu hören wähnte. Seine Mitkranken hielt er für gro߬
artige Weltschiffer, welche hier nur etwas rasteten. Die Bet¬
ten schienen ihm aus zwei durch Gelenke verbundenen Thei¬
len zu bestehen, von denen bei der gewaltig schnellen Bewe¬
gung der eine über den anderen sprungartig hinwegschieße.
Auf diese Weise bereiseten jene Schiffer die Weltkörper, und
brächten Botschaft von dem einen auf den andern. Das Be¬
wußtsein seiner Persönlichkeit bemühte er sich durch häufige
Nennung seines Namens und derjenigen seiner Verwandten
mit Anstrengung festzuhalten. Auch die Zeitrechnung der näch¬
sten Vergangenheit strebte er sich einzuprägen, da er glaubte,
daß die übrigen Menschen die Zeitrechnung verloren hätten,
und sie nur durch ihn wiedererlangen könnten. Die Charite
hielt er längere Zeit für ein Operntheater, auf welchem er
als Papageno mit wirklichen Federn und Flügeln von den
schönsten Farben erscheinen solle, und jedes Geräusch däuchte
ihm von den ungeduldig harrenden Zuschauern auszugehen.

Natürlich waren seine Antworten auf vorgelegte Fragen
ein Wiederhall des in seinem Kopfe kreisenden Wirbels von
Vorstellungen. Er erzählte z. B., daß ihm im Geiste die
Himmelsleiter erschienen sei, auf welcher ein Engel einen hin¬
aufsteigenden Knaben zurückgehalten habe, damit dieser nicht
in den Himmel hineinschauen, und nicht beim Anblick der den

Ideler über d. rel. Wahnsinn. 14

vorragenden Holzſtock, auf welchem ſich kleine Marionetten be¬
wegten, ferner in einem halb mit Waſſer angefuͤllten Glas¬
napfe ein ſchoͤnes Kind, welches nach einem andern eben ſo
ſchoͤnen die Hand ausſtreckte. Eine Zeit lang kam ihm ſeine
Bettdecke wie ein marmorner Sarkophag vor, auf welchem
Hautreliefs in mannigfach ſcharf ausgepraͤgten Gebilden, na¬
mentlich Menſchengeſtalten dargeſtellt waren. An einem Abende
wollte er ein großes, wunderbares Schattenſpiel an der Wand
produciren, denn er glaubte den Zauberſpiegel Salomos zu
beſitzen, mit deſſen Huͤlfe er alles Denkbare und Undenkbare
ausfuͤhren koͤnne. Ferner ſtieg die Vorſtellung in ihm auf,
daß er der neugeborene Sohn einer Koͤnigin ſei, daß bei ſei¬
ner Geburt ſaͤmmtliche Planeten in eine gerade Linie zur
Sonne getreten, und daß eine alte koͤnigliche Familienuhr wie¬
der in Gang gekommen ſei, deren Bewegung er in der nahen
Wand zu hoͤren waͤhnte. Seine Mitkranken hielt er fuͤr gro߬
artige Weltſchiffer, welche hier nur etwas raſteten. Die Bet¬
ten ſchienen ihm aus zwei durch Gelenke verbundenen Thei¬
len zu beſtehen, von denen bei der gewaltig ſchnellen Bewe¬
gung der eine uͤber den anderen ſprungartig hinwegſchieße.
Auf dieſe Weiſe bereiſeten jene Schiffer die Weltkoͤrper, und
braͤchten Botſchaft von dem einen auf den andern. Das Be¬
wußtſein ſeiner Perſoͤnlichkeit bemuͤhte er ſich durch haͤufige
Nennung ſeines Namens und derjenigen ſeiner Verwandten
mit Anſtrengung feſtzuhalten. Auch die Zeitrechnung der naͤch¬
ſten Vergangenheit ſtrebte er ſich einzupraͤgen, da er glaubte,
daß die uͤbrigen Menſchen die Zeitrechnung verloren haͤtten,
und ſie nur durch ihn wiedererlangen koͤnnten. Die Charité
hielt er laͤngere Zeit fuͤr ein Operntheater, auf welchem er
als Papageno mit wirklichen Federn und Fluͤgeln von den
ſchoͤnſten Farben erſcheinen ſolle, und jedes Geraͤuſch daͤuchte
ihm von den ungeduldig harrenden Zuſchauern auszugehen.

Natuͤrlich waren ſeine Antworten auf vorgelegte Fragen
ein Wiederhall des in ſeinem Kopfe kreiſenden Wirbels von
Vorſtellungen. Er erzaͤhlte z. B., daß ihm im Geiſte die
Himmelsleiter erſchienen ſei, auf welcher ein Engel einen hin¬
aufſteigenden Knaben zuruͤckgehalten habe, damit dieſer nicht
in den Himmel hineinſchauen, und nicht beim Anblick der den

Ideler uͤber d. rel. Wahnſinn. 14
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0217" n="209"/>
vorragenden Holz&#x017F;tock, auf welchem &#x017F;ich kleine Marionetten be¬<lb/>
wegten, ferner in einem halb mit Wa&#x017F;&#x017F;er angefu&#x0364;llten Glas¬<lb/>
napfe ein &#x017F;cho&#x0364;nes Kind, welches nach einem andern eben &#x017F;o<lb/>
&#x017F;cho&#x0364;nen die Hand aus&#x017F;treckte. Eine Zeit lang kam ihm &#x017F;eine<lb/>
Bettdecke wie ein marmorner Sarkophag vor, auf welchem<lb/>
Hautreliefs in mannigfach &#x017F;charf ausgepra&#x0364;gten Gebilden, na¬<lb/>
mentlich Men&#x017F;chenge&#x017F;talten darge&#x017F;tellt waren. An einem Abende<lb/>
wollte er ein großes, wunderbares Schatten&#x017F;piel an der Wand<lb/>
produciren, denn er glaubte den Zauber&#x017F;piegel Salomos zu<lb/>
be&#x017F;itzen, mit de&#x017F;&#x017F;en Hu&#x0364;lfe er alles Denkbare und Undenkbare<lb/>
ausfu&#x0364;hren ko&#x0364;nne. Ferner &#x017F;tieg die Vor&#x017F;tellung in ihm auf,<lb/>
daß er der neugeborene Sohn einer Ko&#x0364;nigin &#x017F;ei, daß bei &#x017F;ei¬<lb/>
ner Geburt &#x017F;a&#x0364;mmtliche Planeten in eine gerade Linie zur<lb/>
Sonne getreten, und daß eine alte ko&#x0364;nigliche Familienuhr wie¬<lb/>
der in Gang gekommen &#x017F;ei, deren Bewegung er in der nahen<lb/>
Wand zu ho&#x0364;ren wa&#x0364;hnte. Seine Mitkranken hielt er fu&#x0364;r gro߬<lb/>
artige Welt&#x017F;chiffer, welche hier nur etwas ra&#x017F;teten. Die Bet¬<lb/>
ten &#x017F;chienen ihm aus zwei durch Gelenke verbundenen Thei¬<lb/>
len zu be&#x017F;tehen, von denen bei der gewaltig &#x017F;chnellen Bewe¬<lb/>
gung der eine u&#x0364;ber den anderen &#x017F;prungartig hinweg&#x017F;chieße.<lb/>
Auf die&#x017F;e Wei&#x017F;e berei&#x017F;eten jene Schiffer die Weltko&#x0364;rper, und<lb/>
bra&#x0364;chten Bot&#x017F;chaft von dem einen auf den andern. Das Be¬<lb/>
wußt&#x017F;ein &#x017F;einer Per&#x017F;o&#x0364;nlichkeit bemu&#x0364;hte er &#x017F;ich durch ha&#x0364;ufige<lb/>
Nennung &#x017F;eines Namens und derjenigen &#x017F;einer Verwandten<lb/>
mit An&#x017F;trengung fe&#x017F;tzuhalten. Auch die Zeitrechnung der na&#x0364;ch¬<lb/>
&#x017F;ten Vergangenheit &#x017F;trebte er &#x017F;ich einzupra&#x0364;gen, da er glaubte,<lb/>
daß die u&#x0364;brigen Men&#x017F;chen die Zeitrechnung verloren ha&#x0364;tten,<lb/>
und &#x017F;ie nur durch ihn wiedererlangen ko&#x0364;nnten. Die Charité<lb/>
hielt er la&#x0364;ngere Zeit fu&#x0364;r ein Operntheater, auf welchem er<lb/>
als Papageno mit wirklichen Federn und Flu&#x0364;geln von den<lb/>
&#x017F;cho&#x0364;n&#x017F;ten Farben er&#x017F;cheinen &#x017F;olle, und jedes Gera&#x0364;u&#x017F;ch da&#x0364;uchte<lb/>
ihm von den ungeduldig harrenden Zu&#x017F;chauern auszugehen.</p><lb/>
        <p>Natu&#x0364;rlich waren &#x017F;eine Antworten auf vorgelegte Fragen<lb/>
ein Wiederhall des in &#x017F;einem Kopfe krei&#x017F;enden Wirbels von<lb/>
Vor&#x017F;tellungen. Er erza&#x0364;hlte z. B., daß ihm im Gei&#x017F;te die<lb/>
Himmelsleiter er&#x017F;chienen &#x017F;ei, auf welcher ein Engel einen hin¬<lb/>
auf&#x017F;teigenden Knaben zuru&#x0364;ckgehalten habe, damit die&#x017F;er nicht<lb/>
in den Himmel hinein&#x017F;chauen, und nicht beim Anblick der den<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Ideler</hi> u&#x0364;ber d. rel. Wahn&#x017F;inn. 14<lb/></fw>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[209/0217] vorragenden Holzſtock, auf welchem ſich kleine Marionetten be¬ wegten, ferner in einem halb mit Waſſer angefuͤllten Glas¬ napfe ein ſchoͤnes Kind, welches nach einem andern eben ſo ſchoͤnen die Hand ausſtreckte. Eine Zeit lang kam ihm ſeine Bettdecke wie ein marmorner Sarkophag vor, auf welchem Hautreliefs in mannigfach ſcharf ausgepraͤgten Gebilden, na¬ mentlich Menſchengeſtalten dargeſtellt waren. An einem Abende wollte er ein großes, wunderbares Schattenſpiel an der Wand produciren, denn er glaubte den Zauberſpiegel Salomos zu beſitzen, mit deſſen Huͤlfe er alles Denkbare und Undenkbare ausfuͤhren koͤnne. Ferner ſtieg die Vorſtellung in ihm auf, daß er der neugeborene Sohn einer Koͤnigin ſei, daß bei ſei¬ ner Geburt ſaͤmmtliche Planeten in eine gerade Linie zur Sonne getreten, und daß eine alte koͤnigliche Familienuhr wie¬ der in Gang gekommen ſei, deren Bewegung er in der nahen Wand zu hoͤren waͤhnte. Seine Mitkranken hielt er fuͤr gro߬ artige Weltſchiffer, welche hier nur etwas raſteten. Die Bet¬ ten ſchienen ihm aus zwei durch Gelenke verbundenen Thei¬ len zu beſtehen, von denen bei der gewaltig ſchnellen Bewe¬ gung der eine uͤber den anderen ſprungartig hinwegſchieße. Auf dieſe Weiſe bereiſeten jene Schiffer die Weltkoͤrper, und braͤchten Botſchaft von dem einen auf den andern. Das Be¬ wußtſein ſeiner Perſoͤnlichkeit bemuͤhte er ſich durch haͤufige Nennung ſeines Namens und derjenigen ſeiner Verwandten mit Anſtrengung feſtzuhalten. Auch die Zeitrechnung der naͤch¬ ſten Vergangenheit ſtrebte er ſich einzupraͤgen, da er glaubte, daß die uͤbrigen Menſchen die Zeitrechnung verloren haͤtten, und ſie nur durch ihn wiedererlangen koͤnnten. Die Charité hielt er laͤngere Zeit fuͤr ein Operntheater, auf welchem er als Papageno mit wirklichen Federn und Fluͤgeln von den ſchoͤnſten Farben erſcheinen ſolle, und jedes Geraͤuſch daͤuchte ihm von den ungeduldig harrenden Zuſchauern auszugehen. Natuͤrlich waren ſeine Antworten auf vorgelegte Fragen ein Wiederhall des in ſeinem Kopfe kreiſenden Wirbels von Vorſtellungen. Er erzaͤhlte z. B., daß ihm im Geiſte die Himmelsleiter erſchienen ſei, auf welcher ein Engel einen hin¬ aufſteigenden Knaben zuruͤckgehalten habe, damit dieſer nicht in den Himmel hineinſchauen, und nicht beim Anblick der den Ideler uͤber d. rel. Wahnſinn. 14

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/217
Zitationshilfe: Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 209. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/217>, abgerufen am 29.04.2024.