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Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 3. Berlin, 1959.

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Blütenzeiten abstreift und aus der Vergangenheit der Jugend einen
weiten Traum macht. Bald sind wir alle verändert. O wenn der
Mensch doch in der jugendlichen Minute es sich immer sagte: fasse sie,
zieh sie in dein Herz, sie entflattert so bald und wendet sich nie mehr
um! -- Ach was hat nicht jede Seele versäumt? --5

Als ich bei Aschersleben -- ungefähr 25 Meilen von Ihnen
-- Abends mit meiner Postchaise auf der Fähre über die Saale
gerudert wurde, und an ihre Wellen einsam und bewegt hinunter sah,
so sagte ich mir: alle diese Wellen sind durch Hof und vor Ihrem
Gartenhause und vor meinen lieben Menschen vorbeigeflossen! Wie10
sehnsüchtig und vertraut und so nahe euch allen blikt' ich jedem Wasser-
ring und dem langen fliehenden Zuge nach, und ich hätte gerne die
liebe Fluth fassen und trinken mögen.


Ich habe Ihren lezten lieben Brief in der Hand; meine Sehnsucht15
nach Hof ist zu gros im Verhältnis meiner Zeit und Vernunft; ihre
Befriedigung wird durch meine Weimarsche Reise entschieden. Für
Ihre Neuigkeiten geb' ich auch welche.

Der Graf Moltke aus dem Holsteinischen, der Reisebegleiter von
Baggesen und der Bekante von Jakobi, kam von Weimar auf 3 Tage20
mit Frau und Schwägerin hieher meinetwegen, wir assen täglich
beisammen. Die Frau, die unter dem Anschauen sich verschönt, ge-
wöhnte sich an unser Beisammenleben und Disputieren. Sie waren bei
mir, schenkten mir eine blaue Tasse, und ich that in die blauen Augen
der Weiber ein Paar Tropfen durch mein Klavierspielen. Sie mochten25
kaum aus der häuslichen Stube.

Ich zeigte ihnen im herlichen Park Abends die rührende Aussicht
vom künstlichen Berg auf eine schöne wankende Welt von Pappel-
[90]Alleen, Hängeweiden und einem breiten Wasser an Ruinen. Ich muste
am lezten Abend nach den Fehlschlagungen aller ausweichenden Künste30
aus dem Titan vorlesen; und die liebe, weiche Gräfin (die es noch mehr
durch die Nähe ihrer Niederkunft wird) war mir recht gut mit Hand
und Auge. Da ich vollends am Morgen des Abschieds darauf die drei
Stambuchblätter mit den Inskripzionen, die auf jeden berechnet waren,
wiederbrachte -- und mir neben den nassen Augen und langsamen35
Zurüstungen zu bange wurde -- und ich recht warm und beredt von
den weiblichen Seelen (der Graf pakte unten mit ein) schied und wieder

Blütenzeiten abſtreift und aus der Vergangenheit der Jugend einen
weiten Traum macht. Bald ſind wir alle verändert. O wenn der
Menſch doch in der jugendlichen Minute es ſich immer ſagte: faſſe ſie,
zieh ſie in dein Herz, ſie entflattert ſo bald und wendet ſich nie mehr
um! — Ach was hat nicht jede Seele verſäumt? —5

Als ich bei Aſchersleben — ungefähr 25 Meilen von Ihnen
— Abends mit meiner Poſtchaiſe auf der Fähre über die Saale
gerudert wurde, und an ihre Wellen einſam und bewegt hinunter ſah,
ſo ſagte ich mir: alle dieſe Wellen ſind durch Hof und vor Ihrem
Gartenhauſe und vor meinen lieben Menſchen vorbeigefloſſen! Wie10
ſehnſüchtig und vertraut und ſo nahe euch allen blikt’ ich jedem Waſſer-
ring und dem langen fliehenden Zuge nach, und ich hätte gerne die
liebe Fluth faſſen und trinken mögen.


Ich habe Ihren lezten lieben Brief in der Hand; meine Sehnſucht15
nach Hof iſt zu gros im Verhältnis meiner Zeit und Vernunft; ihre
Befriedigung wird durch meine Weimarſche Reiſe entſchieden. Für
Ihre Neuigkeiten geb’ ich auch welche.

Der Graf Moltke aus dem Holſteiniſchen, der Reiſebegleiter von
Baggeſen und der Bekante von Jakobi, kam von Weimar auf 3 Tage20
mit Frau und Schwägerin hieher meinetwegen, wir aſſen täglich
beiſammen. Die Frau, die unter dem Anſchauen ſich verſchönt, ge-
wöhnte ſich an unſer Beiſammenleben und Diſputieren. Sie waren bei
mir, ſchenkten mir eine blaue Taſſe, und ich that in die blauen Augen
der Weiber ein Paar Tropfen durch mein Klavierſpielen. Sie mochten25
kaum aus der häuslichen Stube.

Ich zeigte ihnen im herlichen Park Abends die rührende Ausſicht
vom künſtlichen Berg auf eine ſchöne wankende Welt von Pappel-
[90]Alleen, Hängeweiden und einem breiten Waſſer an Ruinen. Ich muſte
am lezten Abend nach den Fehlſchlagungen aller ausweichenden Künſte30
aus dem Titan vorleſen; und die liebe, weiche Gräfin (die es noch mehr
durch die Nähe ihrer Niederkunft wird) war mir recht gut mit Hand
und Auge. Da ich vollends am Morgen des Abſchieds darauf die drei
Stambuchblätter mit den Inſkripzionen, die auf jeden berechnet waren,
wiederbrachte — und mir neben den naſſen Augen und langſamen35
Zurüſtungen zu bange wurde — und ich recht warm und beredt von
den weiblichen Seelen (der Graf pakte unten mit ein) ſchied und wieder

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[82/0091] Blütenzeiten abſtreift und aus der Vergangenheit der Jugend einen weiten Traum macht. Bald ſind wir alle verändert. O wenn der Menſch doch in der jugendlichen Minute es ſich immer ſagte: faſſe ſie, zieh ſie in dein Herz, ſie entflattert ſo bald und wendet ſich nie mehr um! — Ach was hat nicht jede Seele verſäumt? — 5 Als ich bei Aſchersleben — ungefähr 25 Meilen von Ihnen — Abends mit meiner Poſtchaiſe auf der Fähre über die Saale gerudert wurde, und an ihre Wellen einſam und bewegt hinunter ſah, ſo ſagte ich mir: alle dieſe Wellen ſind durch Hof und vor Ihrem Gartenhauſe und vor meinen lieben Menſchen vorbeigefloſſen! Wie 10 ſehnſüchtig und vertraut und ſo nahe euch allen blikt’ ich jedem Waſſer- ring und dem langen fliehenden Zuge nach, und ich hätte gerne die liebe Fluth faſſen und trinken mögen. d. 17 Aug. Ich habe Ihren lezten lieben Brief in der Hand; meine Sehnſucht 15 nach Hof iſt zu gros im Verhältnis meiner Zeit und Vernunft; ihre Befriedigung wird durch meine Weimarſche Reiſe entſchieden. Für Ihre Neuigkeiten geb’ ich auch welche. Der Graf Moltke aus dem Holſteiniſchen, der Reiſebegleiter von Baggeſen und der Bekante von Jakobi, kam von Weimar auf 3 Tage 20 mit Frau und Schwägerin hieher meinetwegen, wir aſſen täglich beiſammen. Die Frau, die unter dem Anſchauen ſich verſchönt, ge- wöhnte ſich an unſer Beiſammenleben und Diſputieren. Sie waren bei mir, ſchenkten mir eine blaue Taſſe, und ich that in die blauen Augen der Weiber ein Paar Tropfen durch mein Klavierſpielen. Sie mochten 25 kaum aus der häuslichen Stube. Ich zeigte ihnen im herlichen Park Abends die rührende Ausſicht vom künſtlichen Berg auf eine ſchöne wankende Welt von Pappel- Alleen, Hängeweiden und einem breiten Waſſer an Ruinen. Ich muſte am lezten Abend nach den Fehlſchlagungen aller ausweichenden Künſte 30 aus dem Titan vorleſen; und die liebe, weiche Gräfin (die es noch mehr durch die Nähe ihrer Niederkunft wird) war mir recht gut mit Hand und Auge. Da ich vollends am Morgen des Abſchieds darauf die drei Stambuchblätter mit den Inſkripzionen, die auf jeden berechnet waren, wiederbrachte — und mir neben den naſſen Augen und langſamen 35 Zurüſtungen zu bange wurde — und ich recht warm und beredt von den weiblichen Seelen (der Graf pakte unten mit ein) ſchied und wieder [90]

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription. (2016-11-22T15:05:42Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-11-22T15:05:42Z)

Weitere Informationen:

Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).

Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.




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Zitationshilfe: Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 3. Berlin, 1959, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe03_1959/91>, abgerufen am 30.04.2024.