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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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Zweites Buch. Erster Abschnitt. II. Die Grundtriebe.
nicht, daß sie je einem wirklichen Bedürfniß des Lebens dauernd
in den Weg getreten ist.64)

Aber einen Punkt gab es allerdings, hinsichtlich dessen sie
unerbittlich war, das war das Streben nach Erhaltung der
Continuität in der Entwicklung des Rechts. Sie befriedigte ein
neues Bedürfniß nicht mit neuen Mitteln, so lange die alten
sich durch geschickte Benutzung, wenn auch in umständlicher
Weise 65) zu dem Zweck verwenden ließen. Und wenn etwas
Neues sich den Zutritt erzwungen hatte, so suchte sie doch dasselbe
sei es materiell, sei es formell an das Alte anzuknüpfen. Daher
die Scheingeschäfte, Umwege, Fiktionen des ältern Rechts, die
Beibehaltung alter bedeutungslos gewordener Formen,66) bei
wichtigen Reformen die Benutzung des Vorhandenen und die
Verjüngung desselben in zeitgemäßer Gestalt u. s. w., kurz jene
Kunst, deren bereits bei der conservativen Richtung des römi-
schen Charakters (B. 1 S. 308) gedacht ist. Wir verschieben die
nähere Betrachtung derselben auf das folgende Buch,67) da uns
letzteres nicht bloß den passendsten Standpunkt gewährt, um sie

64) Cicero's Diatribe gegen die Juristen in der bekannten Stelle pro Mu-
rena c.
12 enthält ein sprechendes Zeugniß für die obige Ansicht: Nam
quum permulta praeclare legibus essent constituta, ea jurisconsultorum
ingeniis pleraque corrupta ac depravata sunt
. In der dritten Periode ward
das Verhältniß der progressiven und conservativen Mächte ein anderes, und
damit auch die Stellung der Jurisprudenz eine andere. Hier fiel namentlich
dem Prätor die Rolle des Fortschritts zu, und damit war die Jurisprudenz
mehr auf die Erhaltung angewiesen.
65) S. z. B. die von Cicero in jener Stelle angeführten Beispiele: mu-
lieres omnes propter infirmitatem consilii majores in tutorum potestate
esse voluerunt; hi invenerunt genera tutorum, quae potestate mulierum
continerentur
(Scheinehe, coemtio cum extraneo fiduciae causa). Sacra
interire illi noluerunt; horum ingenio senes ad coemptiones faciendas
interimendorum sacrorum causa reperti sunt
(derselbe Akt). Ferner die
sponsio praejudicialis u. a.
66) Z. B. des Zuwägens des Erzes bei der mancipatio, das seine Be-
deutung seit dem Aufkommen des gemünzten Geldes verloren hatte.
67) In dem Abschnitt über die Technik der neuern Rechtsbildung.

Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
nicht, daß ſie je einem wirklichen Bedürfniß des Lebens dauernd
in den Weg getreten iſt.64)

Aber einen Punkt gab es allerdings, hinſichtlich deſſen ſie
unerbittlich war, das war das Streben nach Erhaltung der
Continuität in der Entwicklung des Rechts. Sie befriedigte ein
neues Bedürfniß nicht mit neuen Mitteln, ſo lange die alten
ſich durch geſchickte Benutzung, wenn auch in umſtändlicher
Weiſe 65) zu dem Zweck verwenden ließen. Und wenn etwas
Neues ſich den Zutritt erzwungen hatte, ſo ſuchte ſie doch daſſelbe
ſei es materiell, ſei es formell an das Alte anzuknüpfen. Daher
die Scheingeſchäfte, Umwege, Fiktionen des ältern Rechts, die
Beibehaltung alter bedeutungslos gewordener Formen,66) bei
wichtigen Reformen die Benutzung des Vorhandenen und die
Verjüngung deſſelben in zeitgemäßer Geſtalt u. ſ. w., kurz jene
Kunſt, deren bereits bei der conſervativen Richtung des römi-
ſchen Charakters (B. 1 S. 308) gedacht iſt. Wir verſchieben die
nähere Betrachtung derſelben auf das folgende Buch,67) da uns
letzteres nicht bloß den paſſendſten Standpunkt gewährt, um ſie

64) Cicero’s Diatribe gegen die Juriſten in der bekannten Stelle pro Mu-
rena c.
12 enthält ein ſprechendes Zeugniß für die obige Anſicht: Nam
quum permulta praeclare legibus essent constituta, ea jurisconsultorum
ingeniis pleraque corrupta ac depravata sunt
. In der dritten Periode ward
das Verhältniß der progreſſiven und conſervativen Mächte ein anderes, und
damit auch die Stellung der Jurisprudenz eine andere. Hier fiel namentlich
dem Prätor die Rolle des Fortſchritts zu, und damit war die Jurisprudenz
mehr auf die Erhaltung angewieſen.
65) S. z. B. die von Cicero in jener Stelle angeführten Beiſpiele: mu-
lieres omnes propter infirmitatem consilii majores in tutorum potestate
esse voluerunt; hi invenerunt genera tutorum, quae potestate mulierum
continerentur
(Scheinehe, coemtio cum extraneo fiduciae causa). Sacra
interire illi noluerunt; horum ingenio senes ad coemptiones faciendas
interimendorum sacrorum causa reperti sunt
(derſelbe Akt). Ferner die
sponsio praejudicialis u. a.
66) Z. B. des Zuwägens des Erzes bei der mancipatio, das ſeine Be-
deutung ſeit dem Aufkommen des gemünzten Geldes verloren hatte.
67) In dem Abſchnitt über die Technik der neuern Rechtsbildung.
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[72/0086] Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe. nicht, daß ſie je einem wirklichen Bedürfniß des Lebens dauernd in den Weg getreten iſt. 64) Aber einen Punkt gab es allerdings, hinſichtlich deſſen ſie unerbittlich war, das war das Streben nach Erhaltung der Continuität in der Entwicklung des Rechts. Sie befriedigte ein neues Bedürfniß nicht mit neuen Mitteln, ſo lange die alten ſich durch geſchickte Benutzung, wenn auch in umſtändlicher Weiſe 65) zu dem Zweck verwenden ließen. Und wenn etwas Neues ſich den Zutritt erzwungen hatte, ſo ſuchte ſie doch daſſelbe ſei es materiell, ſei es formell an das Alte anzuknüpfen. Daher die Scheingeſchäfte, Umwege, Fiktionen des ältern Rechts, die Beibehaltung alter bedeutungslos gewordener Formen, 66) bei wichtigen Reformen die Benutzung des Vorhandenen und die Verjüngung deſſelben in zeitgemäßer Geſtalt u. ſ. w., kurz jene Kunſt, deren bereits bei der conſervativen Richtung des römi- ſchen Charakters (B. 1 S. 308) gedacht iſt. Wir verſchieben die nähere Betrachtung derſelben auf das folgende Buch, 67) da uns letzteres nicht bloß den paſſendſten Standpunkt gewährt, um ſie 64) Cicero’s Diatribe gegen die Juriſten in der bekannten Stelle pro Mu- rena c. 12 enthält ein ſprechendes Zeugniß für die obige Anſicht: Nam quum permulta praeclare legibus essent constituta, ea jurisconsultorum ingeniis pleraque corrupta ac depravata sunt. In der dritten Periode ward das Verhältniß der progreſſiven und conſervativen Mächte ein anderes, und damit auch die Stellung der Jurisprudenz eine andere. Hier fiel namentlich dem Prätor die Rolle des Fortſchritts zu, und damit war die Jurisprudenz mehr auf die Erhaltung angewieſen. 65) S. z. B. die von Cicero in jener Stelle angeführten Beiſpiele: mu- lieres omnes propter infirmitatem consilii majores in tutorum potestate esse voluerunt; hi invenerunt genera tutorum, quae potestate mulierum continerentur (Scheinehe, coemtio cum extraneo fiduciae causa). Sacra interire illi noluerunt; horum ingenio senes ad coemptiones faciendas interimendorum sacrorum causa reperti sunt (derſelbe Akt). Ferner die sponsio praejudicialis u. a. 66) Z. B. des Zuwägens des Erzes bei der mancipatio, das ſeine Be- deutung ſeit dem Aufkommen des gemünzten Geldes verloren hatte. 67) In dem Abſchnitt über die Technik der neuern Rechtsbildung.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/86>, abgerufen am 28.04.2024.