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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865.

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I. Substant. Moment des Rechts. -- Willensformalismus. §. 60.
wahrhaftigem Recht erhoben, d. h. zu einer Macht, die das
Leben gestaltet und beherrscht; ohne diese Bethätigung ihrer
praktischen Kraft durch unausgesetzte constante Verwirklichung
wären sie Gedanken, Ideen, Ansichten, wie alle andern, aber
keine Rechtssätze.

Für die dogmatische Darstellung des Rechts reicht diese Auf-
fassung, welche die für jene allein wichtigen Momente des
Rechts: den Charakter der Positivität und Realität treffend
wiedergibt, vollkommen aus; darüber hinaus nicht. Denn es
fehlt ihr an einem Princip für den Inhalt des Willens; wenn
sie den Willen selber zu seinem eignen Princip erheben will, um
auf diese Weise zu einer inhaltreichen Füllung desselben zu ge-
langen, so artet dies in Sophistik aus.

Für unsere Zwecke hat nur die Verwendung des Willensbe-
griffs für die Erklärung des Rechts im subjectiven Sinn ein
Interesse. Wenn letzteres nun zunächst an den "allgemeinen
Willen" in der Weise angeknüpft wird, daß der individuelle Wille
nur soweit wollen könne, als er durch den allgemeinen ge-
deckt ist, so ist dies vollkommen richtig. Nur soweit dies Con-
gruenzverhältniß reicht, kommt die Macht, mit der jener ausge-
rüstet ist, auch diesem zu gute, schlägt das objective Recht zum
subjectiven Recht nieder, darüber hinaus offenbart sich die Ohn-
macht des individuellen Willens, indem die Macht des allge-
meinen Willens ihn zu Boden wirft. In diesem Sinn kann man
also das Recht als "concrete Einheit des Staats- und Einzel-
willens" (Kierulff) bezeichnen, als ein in der Privatperson con-
cret und lebendig gewordenes Stück des allgemeinen Willens.
Ganz anders aber, wenn man, wie dies nach dem Vorgang
Hegels mehr und mehr auch die positive Jurisprudenz zu thun
angefangen hat, in ähnlicher Weise wie die Substanz des ob-
jectiven Rechts in den allgemeinen, so die des subjectiven in den
subjectiven Willen setzt. Dies ist nicht bloß einseitig, sondern
falsch.437) Daraus, daß mein Wille sich nicht weiter erstrecken

437) Von der Bedeutung, die der Wille für die Begründung des

I. Subſtant. Moment des Rechts. — Willensformalismus. §. 60.
wahrhaftigem Recht erhoben, d. h. zu einer Macht, die das
Leben geſtaltet und beherrſcht; ohne dieſe Bethätigung ihrer
praktiſchen Kraft durch unausgeſetzte conſtante Verwirklichung
wären ſie Gedanken, Ideen, Anſichten, wie alle andern, aber
keine Rechtsſätze.

Für die dogmatiſche Darſtellung des Rechts reicht dieſe Auf-
faſſung, welche die für jene allein wichtigen Momente des
Rechts: den Charakter der Poſitivität und Realität treffend
wiedergibt, vollkommen aus; darüber hinaus nicht. Denn es
fehlt ihr an einem Princip für den Inhalt des Willens; wenn
ſie den Willen ſelber zu ſeinem eignen Princip erheben will, um
auf dieſe Weiſe zu einer inhaltreichen Füllung deſſelben zu ge-
langen, ſo artet dies in Sophiſtik aus.

Für unſere Zwecke hat nur die Verwendung des Willensbe-
griffs für die Erklärung des Rechts im ſubjectiven Sinn ein
Intereſſe. Wenn letzteres nun zunächſt an den „allgemeinen
Willen“ in der Weiſe angeknüpft wird, daß der individuelle Wille
nur ſoweit wollen könne, als er durch den allgemeinen ge-
deckt iſt, ſo iſt dies vollkommen richtig. Nur ſoweit dies Con-
gruenzverhältniß reicht, kommt die Macht, mit der jener ausge-
rüſtet iſt, auch dieſem zu gute, ſchlägt das objective Recht zum
ſubjectiven Recht nieder, darüber hinaus offenbart ſich die Ohn-
macht des individuellen Willens, indem die Macht des allge-
meinen Willens ihn zu Boden wirft. In dieſem Sinn kann man
alſo das Recht als „concrete Einheit des Staats- und Einzel-
willens“ (Kierulff) bezeichnen, als ein in der Privatperſon con-
cret und lebendig gewordenes Stück des allgemeinen Willens.
Ganz anders aber, wenn man, wie dies nach dem Vorgang
Hegels mehr und mehr auch die poſitive Jurisprudenz zu thun
angefangen hat, in ähnlicher Weiſe wie die Subſtanz des ob-
jectiven Rechts in den allgemeinen, ſo die des ſubjectiven in den
ſubjectiven Willen ſetzt. Dies iſt nicht bloß einſeitig, ſondern
falſch.437) Daraus, daß mein Wille ſich nicht weiter erſtrecken

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[309/0325] I. Subſtant. Moment des Rechts. — Willensformalismus. §. 60. wahrhaftigem Recht erhoben, d. h. zu einer Macht, die das Leben geſtaltet und beherrſcht; ohne dieſe Bethätigung ihrer praktiſchen Kraft durch unausgeſetzte conſtante Verwirklichung wären ſie Gedanken, Ideen, Anſichten, wie alle andern, aber keine Rechtsſätze. Für die dogmatiſche Darſtellung des Rechts reicht dieſe Auf- faſſung, welche die für jene allein wichtigen Momente des Rechts: den Charakter der Poſitivität und Realität treffend wiedergibt, vollkommen aus; darüber hinaus nicht. Denn es fehlt ihr an einem Princip für den Inhalt des Willens; wenn ſie den Willen ſelber zu ſeinem eignen Princip erheben will, um auf dieſe Weiſe zu einer inhaltreichen Füllung deſſelben zu ge- langen, ſo artet dies in Sophiſtik aus. Für unſere Zwecke hat nur die Verwendung des Willensbe- griffs für die Erklärung des Rechts im ſubjectiven Sinn ein Intereſſe. Wenn letzteres nun zunächſt an den „allgemeinen Willen“ in der Weiſe angeknüpft wird, daß der individuelle Wille nur ſoweit wollen könne, als er durch den allgemeinen ge- deckt iſt, ſo iſt dies vollkommen richtig. Nur ſoweit dies Con- gruenzverhältniß reicht, kommt die Macht, mit der jener ausge- rüſtet iſt, auch dieſem zu gute, ſchlägt das objective Recht zum ſubjectiven Recht nieder, darüber hinaus offenbart ſich die Ohn- macht des individuellen Willens, indem die Macht des allge- meinen Willens ihn zu Boden wirft. In dieſem Sinn kann man alſo das Recht als „concrete Einheit des Staats- und Einzel- willens“ (Kierulff) bezeichnen, als ein in der Privatperſon con- cret und lebendig gewordenes Stück des allgemeinen Willens. Ganz anders aber, wenn man, wie dies nach dem Vorgang Hegels mehr und mehr auch die poſitive Jurisprudenz zu thun angefangen hat, in ähnlicher Weiſe wie die Subſtanz des ob- jectiven Rechts in den allgemeinen, ſo die des ſubjectiven in den ſubjectiven Willen ſetzt. Dies iſt nicht bloß einſeitig, ſondern falſch. 437) Daraus, daß mein Wille ſich nicht weiter erſtrecken 437) Von der Bedeutung, die der Wille für die Begründung des

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865, S. 309. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/325>, abgerufen am 28.04.2024.