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Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 1. Bonn, 1888.

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Zweites Buch.
Das grosse (dritte) Zeitalter, die Epoche Michelangelo's und
Raphaels, war das Zeitalter der wissenschaftlichen Regeln und
Vorschriften, der docta pintura. Bonarroti war der Meister der
Meister durch sein Wissen; die Absicht des Pabstes seine Reste
in S. Peter beizusetzen, war eine Huldigung der Wissenschaft er-
wiesen 1). Ist denn unser Schaffen nicht ein geistiger Vorgang? nicht
unsere Arbeit eine contemplative? Ist es nicht die innere Malerei,
welche das Bild fertig macht? Und darauf allein gründet sich
ihr Anspruch, den privilegirten "freien Künsten" sich an die Seite
zu stellen. Deshalb sind die bilderreichen Poeten unsrer Zeit, --
er nennt u. a. Calderon, Lope, Camoens, aber vor allen Gongora,
wahre Maler 2).

Ist also der echte Künstler ein Denker, ein Dialektiker,
der mit Feder und Bleistift "behauptet, beweist, widerspricht,
schliesst": so ist dagegen der Naturalist ein Leser, der nicht
mehr denkt, als was er im Buche findet. Wenn man bloss die
Natur vor Augen malt, wo bleibt da für den Geist Platz? Die
Kunst wird Sache der Uebung, der Handfertigkeit, d. h. Hand-
werk. Jene "Wahrheit und Lebendigkeit", welche die Laien so
besticht und hinreisst, sie ist eine Funktion der blossen "potentia
operativa
". Diejenigen welche ohne Skizze, mit einem Stückchen
Kreide auf der imprimirten Leinewand entwerfen und sofort
ohne Verbesserungen, Angesichts der Natur zum Malen schreiten,
ja oft die eine Hälfte der Figur fertig haben, ohne dass sie
wissen wie die andere Hälfte aussehen wird: sie sind keine Künst-
ler, sondern "wie ein Fürst in Madrid sie nannte, Sektirer".
Diese sind es, die die Malerei in Misscredit bringen. Vor allen
aber die Genremaler, d. h. die welche den Pöbel malen, "schä-
digen die Kunst und sammeln sich selbst wenig Ehre".

Hat denn also Meister Aristoteles sich geirrt, als er der
theoretischen Thätigkeit die Kunst als praktischen Zustand ent-
gegenstellte? Carducho kann nicht läugnen, dass zwischen Wissen
und Machen ein Unterschied ist, dass das Gemachte allein, das
Verwirklichte (el actuado) verstanden wird und Beifall findet.
Aber die Logik lehrt: der Gebrauch der Wissenschaft ist nicht
Wissenschaft. Der Naturalismus aber ist bloss Gebrauch und
Uebung, ohne die Kunst die geübt werden soll. Daher schliesst
ihn unser Autor aus der Klassification der Malerei aus.


1) Advierte la estimacion del saber. S. 51.
2) Parece que vence lo que pinta, y que no es posible que ejecute otro
pincel lo que dibuja su pluma. S. 146.

Zweites Buch.
Das grosse (dritte) Zeitalter, die Epoche Michelangelo’s und
Raphaels, war das Zeitalter der wissenschaftlichen Regeln und
Vorschriften, der docta pintura. Bonarroti war der Meister der
Meister durch sein Wissen; die Absicht des Pabstes seine Reste
in S. Peter beizusetzen, war eine Huldigung der Wissenschaft er-
wiesen 1). Ist denn unser Schaffen nicht ein geistiger Vorgang? nicht
unsere Arbeit eine contemplative? Ist es nicht die innere Malerei,
welche das Bild fertig macht? Und darauf allein gründet sich
ihr Anspruch, den privilegirten „freien Künsten“ sich an die Seite
zu stellen. Deshalb sind die bilderreichen Poeten unsrer Zeit, —
er nennt u. a. Calderon, Lope, Camoens, aber vor allen Góngora,
wahre Maler 2).

Ist also der echte Künstler ein Denker, ein Dialektiker,
der mit Feder und Bleistift „behauptet, beweist, widerspricht,
schliesst“: so ist dagegen der Naturalist ein Leser, der nicht
mehr denkt, als was er im Buche findet. Wenn man bloss die
Natur vor Augen malt, wo bleibt da für den Geist Platz? Die
Kunst wird Sache der Uebung, der Handfertigkeit, d. h. Hand-
werk. Jene „Wahrheit und Lebendigkeit“, welche die Laien so
besticht und hinreisst, sie ist eine Funktion der blossen „potentia
operativa
“. Diejenigen welche ohne Skizze, mit einem Stückchen
Kreide auf der imprimirten Leinewand entwerfen und sofort
ohne Verbesserungen, Angesichts der Natur zum Malen schreiten,
ja oft die eine Hälfte der Figur fertig haben, ohne dass sie
wissen wie die andere Hälfte aussehen wird: sie sind keine Künst-
ler, sondern „wie ein Fürst in Madrid sie nannte, Sektirer“.
Diese sind es, die die Malerei in Misscredit bringen. Vor allen
aber die Genremaler, d. h. die welche den Pöbel malen, „schä-
digen die Kunst und sammeln sich selbst wenig Ehre“.

Hat denn also Meister Aristoteles sich geirrt, als er der
theoretischen Thätigkeit die Kunst als praktischen Zustand ent-
gegenstellte? Carducho kann nicht läugnen, dass zwischen Wissen
und Machen ein Unterschied ist, dass das Gemachte allein, das
Verwirklichte (el actuado) verstanden wird und Beifall findet.
Aber die Logik lehrt: der Gebrauch der Wissenschaft ist nicht
Wissenschaft. Der Naturalismus aber ist bloss Gebrauch und
Uebung, ohne die Kunst die geübt werden soll. Daher schliesst
ihn unser Autor aus der Klassification der Malerei aus.


1) Advierte la estimacion del saber. S. 51.
2) Parece que vence lo que pinta, y que no es posible que ejecute otro
pincel lo que dibuja su pluma. S. 146.
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[226/0250] Zweites Buch. Das grosse (dritte) Zeitalter, die Epoche Michelangelo’s und Raphaels, war das Zeitalter der wissenschaftlichen Regeln und Vorschriften, der docta pintura. Bonarroti war der Meister der Meister durch sein Wissen; die Absicht des Pabstes seine Reste in S. Peter beizusetzen, war eine Huldigung der Wissenschaft er- wiesen 1). Ist denn unser Schaffen nicht ein geistiger Vorgang? nicht unsere Arbeit eine contemplative? Ist es nicht die innere Malerei, welche das Bild fertig macht? Und darauf allein gründet sich ihr Anspruch, den privilegirten „freien Künsten“ sich an die Seite zu stellen. Deshalb sind die bilderreichen Poeten unsrer Zeit, — er nennt u. a. Calderon, Lope, Camoens, aber vor allen Góngora, wahre Maler 2). Ist also der echte Künstler ein Denker, ein Dialektiker, der mit Feder und Bleistift „behauptet, beweist, widerspricht, schliesst“: so ist dagegen der Naturalist ein Leser, der nicht mehr denkt, als was er im Buche findet. Wenn man bloss die Natur vor Augen malt, wo bleibt da für den Geist Platz? Die Kunst wird Sache der Uebung, der Handfertigkeit, d. h. Hand- werk. Jene „Wahrheit und Lebendigkeit“, welche die Laien so besticht und hinreisst, sie ist eine Funktion der blossen „potentia operativa“. Diejenigen welche ohne Skizze, mit einem Stückchen Kreide auf der imprimirten Leinewand entwerfen und sofort ohne Verbesserungen, Angesichts der Natur zum Malen schreiten, ja oft die eine Hälfte der Figur fertig haben, ohne dass sie wissen wie die andere Hälfte aussehen wird: sie sind keine Künst- ler, sondern „wie ein Fürst in Madrid sie nannte, Sektirer“. Diese sind es, die die Malerei in Misscredit bringen. Vor allen aber die Genremaler, d. h. die welche den Pöbel malen, „schä- digen die Kunst und sammeln sich selbst wenig Ehre“. Hat denn also Meister Aristoteles sich geirrt, als er der theoretischen Thätigkeit die Kunst als praktischen Zustand ent- gegenstellte? Carducho kann nicht läugnen, dass zwischen Wissen und Machen ein Unterschied ist, dass das Gemachte allein, das Verwirklichte (el actuado) verstanden wird und Beifall findet. Aber die Logik lehrt: der Gebrauch der Wissenschaft ist nicht Wissenschaft. Der Naturalismus aber ist bloss Gebrauch und Uebung, ohne die Kunst die geübt werden soll. Daher schliesst ihn unser Autor aus der Klassification der Malerei aus. 1) Advierte la estimacion del saber. S. 51. 2) Parece que vence lo que pinta, y que no es posible que ejecute otro pincel lo que dibuja su pluma. S. 146.

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Zitationshilfe: Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 1. Bonn, 1888, S. 226. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/justi_velazquez01_1888/250>, abgerufen am 27.04.2024.