Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854.

Bild:
<< vorherige Seite

lungen hervorragender Männer gebracht, daß die
letzten nur eine nothwendige Folge der ersten zu
sein schienen und man glaubte, in den ungelehr¬
ten, aber phantasiereichen Volksherren die doc¬
trinärsten Physiognomisten vor sich zu sehen.
Mancher angesehene Mann ward hier zu einem
lächerlichen oder unheimlichen Popanz umgeschaf¬
fen, daß er leibhaft zu sehen war, und selbst
die Vertheidigung desselben hätte etwas Demü¬
thigendes für ihn gehabt, wenn er sie gehört
hätte. Wie in einer ganz anderen Welt war ich
hier, als bei dem Schulmeister; und doch fühlte
ich mich gleich zu Hause und schlürfte die starken
und rücksichtslosen Redensarten, die spöttischen und
wilden Einfälle ebenso andächtig ein, wie die ge¬
wählten ruhigen Worte von Anna's Vater, ohne
deswegen den Verkehr mit diesem zu verachten.
Ich schien mir dort ein Anderer und hier ein An¬
derer und doch immer der Gleiche zu sein. Ich
freute mich, daß mein Leben eine Seite um die
andere vor mir aufthat, und war stolz darauf,
indem ich mir einbildete, daß diese lustigen Män¬
ner mich ihrer Gesellschaft würdig hielten und

lungen hervorragender Maͤnner gebracht, daß die
letzten nur eine nothwendige Folge der erſten zu
ſein ſchienen und man glaubte, in den ungelehr¬
ten, aber phantaſiereichen Volksherren die doc¬
trinaͤrſten Phyſiognomiſten vor ſich zu ſehen.
Mancher angeſehene Mann ward hier zu einem
laͤcherlichen oder unheimlichen Popanz umgeſchaf¬
fen, daß er leibhaft zu ſehen war, und ſelbſt
die Vertheidigung deſſelben haͤtte etwas Demuͤ¬
thigendes fuͤr ihn gehabt, wenn er ſie gehoͤrt
haͤtte. Wie in einer ganz anderen Welt war ich
hier, als bei dem Schulmeiſter; und doch fuͤhlte
ich mich gleich zu Hauſe und ſchluͤrfte die ſtarken
und ruͤckſichtsloſen Redensarten, die ſpoͤttiſchen und
wilden Einfaͤlle ebenſo andaͤchtig ein, wie die ge¬
waͤhlten ruhigen Worte von Anna's Vater, ohne
deswegen den Verkehr mit dieſem zu verachten.
Ich ſchien mir dort ein Anderer und hier ein An¬
derer und doch immer der Gleiche zu ſein. Ich
freute mich, daß mein Leben eine Seite um die
andere vor mir aufthat, und war ſtolz darauf,
indem ich mir einbildete, daß dieſe luſtigen Maͤn¬
ner mich ihrer Geſellſchaft wuͤrdig hielten und

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0446" n="436"/>
lungen hervorragender Ma&#x0364;nner gebracht, daß die<lb/>
letzten nur eine nothwendige Folge der er&#x017F;ten zu<lb/>
&#x017F;ein &#x017F;chienen und man glaubte, in den ungelehr¬<lb/>
ten, aber phanta&#x017F;iereichen Volksherren die doc¬<lb/>
trina&#x0364;r&#x017F;ten Phy&#x017F;iognomi&#x017F;ten vor &#x017F;ich zu &#x017F;ehen.<lb/>
Mancher ange&#x017F;ehene Mann ward hier zu einem<lb/>
la&#x0364;cherlichen oder unheimlichen Popanz umge&#x017F;chaf¬<lb/>
fen, daß er leibhaft zu &#x017F;ehen war, und &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
die Vertheidigung de&#x017F;&#x017F;elben ha&#x0364;tte etwas Demu&#x0364;¬<lb/>
thigendes fu&#x0364;r ihn gehabt, wenn er &#x017F;ie geho&#x0364;rt<lb/>
ha&#x0364;tte. Wie in einer ganz anderen Welt war ich<lb/>
hier, als bei dem Schulmei&#x017F;ter; und doch fu&#x0364;hlte<lb/>
ich mich gleich zu Hau&#x017F;e und &#x017F;chlu&#x0364;rfte die &#x017F;tarken<lb/>
und ru&#x0364;ck&#x017F;ichtslo&#x017F;en Redensarten, die &#x017F;po&#x0364;tti&#x017F;chen und<lb/>
wilden Einfa&#x0364;lle eben&#x017F;o anda&#x0364;chtig ein, wie die ge¬<lb/>
wa&#x0364;hlten ruhigen Worte von Anna's Vater, ohne<lb/>
deswegen den Verkehr mit die&#x017F;em zu verachten.<lb/>
Ich &#x017F;chien mir dort ein Anderer und hier ein An¬<lb/>
derer und doch immer der Gleiche zu &#x017F;ein. Ich<lb/>
freute mich, daß mein Leben eine Seite um die<lb/>
andere vor mir aufthat, und war &#x017F;tolz darauf,<lb/>
indem ich mir einbildete, daß die&#x017F;e lu&#x017F;tigen Ma&#x0364;<lb/>
ner mich ihrer Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft wu&#x0364;rdig hielten und<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[436/0446] lungen hervorragender Maͤnner gebracht, daß die letzten nur eine nothwendige Folge der erſten zu ſein ſchienen und man glaubte, in den ungelehr¬ ten, aber phantaſiereichen Volksherren die doc¬ trinaͤrſten Phyſiognomiſten vor ſich zu ſehen. Mancher angeſehene Mann ward hier zu einem laͤcherlichen oder unheimlichen Popanz umgeſchaf¬ fen, daß er leibhaft zu ſehen war, und ſelbſt die Vertheidigung deſſelben haͤtte etwas Demuͤ¬ thigendes fuͤr ihn gehabt, wenn er ſie gehoͤrt haͤtte. Wie in einer ganz anderen Welt war ich hier, als bei dem Schulmeiſter; und doch fuͤhlte ich mich gleich zu Hauſe und ſchluͤrfte die ſtarken und ruͤckſichtsloſen Redensarten, die ſpoͤttiſchen und wilden Einfaͤlle ebenſo andaͤchtig ein, wie die ge¬ waͤhlten ruhigen Worte von Anna's Vater, ohne deswegen den Verkehr mit dieſem zu verachten. Ich ſchien mir dort ein Anderer und hier ein An¬ derer und doch immer der Gleiche zu ſein. Ich freute mich, daß mein Leben eine Seite um die andere vor mir aufthat, und war ſtolz darauf, indem ich mir einbildete, daß dieſe luſtigen Maͤn¬ ner mich ihrer Geſellſchaft wuͤrdig hielten und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/446
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854, S. 436. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/446>, abgerufen am 12.05.2024.