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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854.

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nächst dem Hause behalten, in welchem sie ganz
allein wohnte. Der genossene Wein erhöhte die
Aufregung, in welcher ich mich befand, wie wir
so durch die engen Wege hinschlüpften, und als
bei dem Hause angekommen Judith sagte:
"Kommt herein, ich will noch einen Kaffee ko¬
chen!" und ich hineinging und sie die Hausthüre
fest hinter uns verriegelte, da klopfte mir das
Herz wie mit Hämmern, während ich mich über¬
müthig des Abenteuers freute und mich vermaß,
dasselbe zu meiner Ehre, aber verwegen zu be¬
stehen. An Anna dachte ich gar nicht, mein wal¬
lendes Blut verfinsterte ihr Bild und ließ nur
den Stern meiner Eitelkeit durchschimmern; denn,
genau erwogen, wollte ich nur um meiner selbst
willen meine Standhaftigkeit erproben. So stark
ist die Selbstsucht, daß sie selbst da noch leuchtet,
wo die reinste Liebe untergeht, und mit trügeri¬
schen Vorspiegelungen den Willen zu gängeln
weiß. Doch darf ich mir gestehen, daß es im
Grunde eine Art romantischen Pflichtgefühls war,
welches mich unbefangen antrieb, keiner merk¬
würdigen Erfahrung auszuweichen. Auch verlor

naͤchſt dem Hauſe behalten, in welchem ſie ganz
allein wohnte. Der genoſſene Wein erhoͤhte die
Aufregung, in welcher ich mich befand, wie wir
ſo durch die engen Wege hinſchluͤpften, und als
bei dem Hauſe angekommen Judith ſagte:
»Kommt herein, ich will noch einen Kaffee ko¬
chen!« und ich hineinging und ſie die Hausthuͤre
feſt hinter uns verriegelte, da klopfte mir das
Herz wie mit Haͤmmern, waͤhrend ich mich uͤber¬
muͤthig des Abenteuers freute und mich vermaß,
daſſelbe zu meiner Ehre, aber verwegen zu be¬
ſtehen. An Anna dachte ich gar nicht, mein wal¬
lendes Blut verfinſterte ihr Bild und ließ nur
den Stern meiner Eitelkeit durchſchimmern; denn,
genau erwogen, wollte ich nur um meiner ſelbſt
willen meine Standhaftigkeit erproben. So ſtark
iſt die Selbſtſucht, daß ſie ſelbſt da noch leuchtet,
wo die reinſte Liebe untergeht, und mit truͤgeri¬
ſchen Vorſpiegelungen den Willen zu gaͤngeln
weiß. Doch darf ich mir geſtehen, daß es im
Grunde eine Art romantiſchen Pflichtgefuͤhls war,
welches mich unbefangen antrieb, keiner merk¬
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[441/0451] naͤchſt dem Hauſe behalten, in welchem ſie ganz allein wohnte. Der genoſſene Wein erhoͤhte die Aufregung, in welcher ich mich befand, wie wir ſo durch die engen Wege hinſchluͤpften, und als bei dem Hauſe angekommen Judith ſagte: »Kommt herein, ich will noch einen Kaffee ko¬ chen!« und ich hineinging und ſie die Hausthuͤre feſt hinter uns verriegelte, da klopfte mir das Herz wie mit Haͤmmern, waͤhrend ich mich uͤber¬ muͤthig des Abenteuers freute und mich vermaß, daſſelbe zu meiner Ehre, aber verwegen zu be¬ ſtehen. An Anna dachte ich gar nicht, mein wal¬ lendes Blut verfinſterte ihr Bild und ließ nur den Stern meiner Eitelkeit durchſchimmern; denn, genau erwogen, wollte ich nur um meiner ſelbſt willen meine Standhaftigkeit erproben. So ſtark iſt die Selbſtſucht, daß ſie ſelbſt da noch leuchtet, wo die reinſte Liebe untergeht, und mit truͤgeri¬ ſchen Vorſpiegelungen den Willen zu gaͤngeln weiß. Doch darf ich mir geſtehen, daß es im Grunde eine Art romantiſchen Pflichtgefuͤhls war, welches mich unbefangen antrieb, keiner merk¬ wuͤrdigen Erfahrung auszuweichen. Auch verlor

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854, S. 441. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/451>, abgerufen am 28.04.2024.