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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854.

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dem Gesangbuch blätternd, ein zusammengefalte¬
tes Blatt hervorzog, es aufmachte, mir vorhielt
und ich nach langem Sinnen jenes beschriebene
und an Anna gerichtete Liebesbriefchen erkannte,
das ich vor Jahren einst den Wellen übergeben
hatte. "Läugnest du noch, daß dies gute Kind
dein Schätzchen sei?" sagte sie, und ich läugnete
es aus Muthwillen zum zweiten Male, das Blatt
als eine vergessene Kinderei erklärend. In die¬
sem Augenblicke riefen Stimmen vor dem Hause,
welche wir als diejenigen der vier Männer er¬
kannten. Sogleich löschte sie das Licht aus, daß
wir im Dunkeln saßen; doch die unten begehrten
nichts desto minder Einlaß, indem sie riefen:
"So macht doch auf, schöne Judith, und wartet
uns mit einer Tasse heißem Kaffee auf! wir wol¬
len uns ehrbar benehmen und noch ein vernünf¬
tiges Wort sprechen! Aber macht auf, zum Lohn
dafür, daß ihr uns so angeführt habt; es ist Fast¬
nacht und ihr dürft ohne Gefährde einmal die
vier ruhmwürdigsten Cumpane des Landes bewir¬
then!" Wir hielten uns aber ganz still; schwere
Regentropfen schlugen an die Scheiben, es wet¬

dem Geſangbuch blaͤtternd, ein zuſammengefalte¬
tes Blatt hervorzog, es aufmachte, mir vorhielt
und ich nach langem Sinnen jenes beſchriebene
und an Anna gerichtete Liebesbriefchen erkannte,
das ich vor Jahren einſt den Wellen uͤbergeben
hatte. »Laͤugneſt du noch, daß dies gute Kind
dein Schaͤtzchen ſei?« ſagte ſie, und ich laͤugnete
es aus Muthwillen zum zweiten Male, das Blatt
als eine vergeſſene Kinderei erklaͤrend. In die¬
ſem Augenblicke riefen Stimmen vor dem Hauſe,
welche wir als diejenigen der vier Maͤnner er¬
kannten. Sogleich loͤſchte ſie das Licht aus, daß
wir im Dunkeln ſaßen; doch die unten begehrten
nichts deſto minder Einlaß, indem ſie riefen:
»So macht doch auf, ſchoͤne Judith, und wartet
uns mit einer Taſſe heißem Kaffee auf! wir wol¬
len uns ehrbar benehmen und noch ein vernuͤnf¬
tiges Wort ſprechen! Aber macht auf, zum Lohn
dafuͤr, daß ihr uns ſo angefuͤhrt habt; es iſt Faſt¬
nacht und ihr duͤrft ohne Gefaͤhrde einmal die
vier ruhmwuͤrdigſten Cumpane des Landes bewir¬
then!« Wir hielten uns aber ganz ſtill; ſchwere
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[446/0456] dem Geſangbuch blaͤtternd, ein zuſammengefalte¬ tes Blatt hervorzog, es aufmachte, mir vorhielt und ich nach langem Sinnen jenes beſchriebene und an Anna gerichtete Liebesbriefchen erkannte, das ich vor Jahren einſt den Wellen uͤbergeben hatte. »Laͤugneſt du noch, daß dies gute Kind dein Schaͤtzchen ſei?« ſagte ſie, und ich laͤugnete es aus Muthwillen zum zweiten Male, das Blatt als eine vergeſſene Kinderei erklaͤrend. In die¬ ſem Augenblicke riefen Stimmen vor dem Hauſe, welche wir als diejenigen der vier Maͤnner er¬ kannten. Sogleich loͤſchte ſie das Licht aus, daß wir im Dunkeln ſaßen; doch die unten begehrten nichts deſto minder Einlaß, indem ſie riefen: »So macht doch auf, ſchoͤne Judith, und wartet uns mit einer Taſſe heißem Kaffee auf! wir wol¬ len uns ehrbar benehmen und noch ein vernuͤnf¬ tiges Wort ſprechen! Aber macht auf, zum Lohn dafuͤr, daß ihr uns ſo angefuͤhrt habt; es iſt Faſt¬ nacht und ihr duͤrft ohne Gefaͤhrde einmal die vier ruhmwuͤrdigſten Cumpane des Landes bewir¬ then!« Wir hielten uns aber ganz ſtill; ſchwere Regentropfen ſchlugen an die Scheiben, es wet¬

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854, S. 446. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/456>, abgerufen am 27.04.2024.