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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854.

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zuletzt gesehen, nur daß die Augen geschlossen
waren und das blüthenweiße Gesicht auf den
Wangen wunderbarer Weise mit einem leisen ro¬
sigen Hauche überflogen, wie vom Widerschein
eines fernen, fernen Morgen- oder Abendrothes.
Ihr Haar glänzte frisch und golden, und ihre
weißen Händchen lagen gefaltet auf dem weißen
Kleide mit einer weißen Rose. Ich sah Alles
wohl und empfand beinahe eine Art glücklichen
Stolzes, in einer so traurigen Lage zu sein und
eine so poetisch schöne todte Jugendgeliebte vor
mir zu sehen. Erst als mir die alte Katherine
jene Stickerei in die Hände gab, welche Anna zu
einer Mappe für mich bestimmt und mühsam
vollendet hatte, mit dem Bericht, daß die Lei¬
dende während der verwichenen Nacht plötzlich
einmal gesagt, man solle nicht vergessen, mir das
Geschenk zu übergeben, so bald ich wieder komme,
erst jetzt fiel es mir ein, daß wir unsterblich sind
und fühlte mich durch ein unauflösliches Band
mit Anna verbunden.

Auch meine Mutter und der Schulmeister schie¬
nen stillschweigend mir ein nahes Recht auf die

zuletzt geſehen, nur daß die Augen geſchloſſen
waren und das bluͤthenweiße Geſicht auf den
Wangen wunderbarer Weiſe mit einem leiſen ro¬
ſigen Hauche uͤberflogen, wie vom Widerſchein
eines fernen, fernen Morgen- oder Abendrothes.
Ihr Haar glaͤnzte friſch und golden, und ihre
weißen Haͤndchen lagen gefaltet auf dem weißen
Kleide mit einer weißen Roſe. Ich ſah Alles
wohl und empfand beinahe eine Art gluͤcklichen
Stolzes, in einer ſo traurigen Lage zu ſein und
eine ſo poetiſch ſchoͤne todte Jugendgeliebte vor
mir zu ſehen. Erſt als mir die alte Katherine
jene Stickerei in die Haͤnde gab, welche Anna zu
einer Mappe fuͤr mich beſtimmt und muͤhſam
vollendet hatte, mit dem Bericht, daß die Lei¬
dende waͤhrend der verwichenen Nacht ploͤtzlich
einmal geſagt, man ſolle nicht vergeſſen, mir das
Geſchenk zu uͤbergeben, ſo bald ich wieder komme,
erſt jetzt fiel es mir ein, daß wir unſterblich ſind
und fuͤhlte mich durch ein unaufloͤsliches Band
mit Anna verbunden.

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nen ſtillſchweigend mir ein nahes Recht auf die

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[143/0153] zuletzt geſehen, nur daß die Augen geſchloſſen waren und das bluͤthenweiße Geſicht auf den Wangen wunderbarer Weiſe mit einem leiſen ro¬ ſigen Hauche uͤberflogen, wie vom Widerſchein eines fernen, fernen Morgen- oder Abendrothes. Ihr Haar glaͤnzte friſch und golden, und ihre weißen Haͤndchen lagen gefaltet auf dem weißen Kleide mit einer weißen Roſe. Ich ſah Alles wohl und empfand beinahe eine Art gluͤcklichen Stolzes, in einer ſo traurigen Lage zu ſein und eine ſo poetiſch ſchoͤne todte Jugendgeliebte vor mir zu ſehen. Erſt als mir die alte Katherine jene Stickerei in die Haͤnde gab, welche Anna zu einer Mappe fuͤr mich beſtimmt und muͤhſam vollendet hatte, mit dem Bericht, daß die Lei¬ dende waͤhrend der verwichenen Nacht ploͤtzlich einmal geſagt, man ſolle nicht vergeſſen, mir das Geſchenk zu uͤbergeben, ſo bald ich wieder komme, erſt jetzt fiel es mir ein, daß wir unſterblich ſind und fuͤhlte mich durch ein unaufloͤsliches Band mit Anna verbunden. Auch meine Mutter und der Schulmeiſter ſchie¬ nen ſtillſchweigend mir ein nahes Recht auf die

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854, S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich03_1854/153>, abgerufen am 30.04.2024.