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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854.

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man sich draußen um das Grab, wo die ganze
Jugend, außergewöhnlicher Weise, einige sorgfältig
eingeübte Figuralgesänge mit heller und reiner
Stimme sang. Ich hatte mich dicht an den Rand
des Grabes gestellt, während die übrigen Ver¬
wandten mit dem leidvollen Vater in der Kirche
blieben. Jetzt ward der Sarg hinabgelassen: der
Todtengräber reichte den Kranz und die Blumen
herauf, daß man sie aufbewahre, und der arme
Sarg stand nun blank in der feuchten Tiefe. Der
Gesang dauerte fort, aber alle Frauen schluchzten.
Der letzte Sonnenstrahl leuchtete nun durch die
Glasscheibe in das bleiche Gesicht, das darunter
lag; das Gefühl, das ich jetzt empfand, war so
seltsam, daß ich es nicht anders, als mit dem
fremden hochtrabenden und kalten Worte "objectiv"
benennen kann, welches die deutsche Aesthetik er¬
funden hat. Ich glaube, die Glasscheibe that es
mir an, daß ich das Gut, was sie verschloß,
gleich einem in Glas und Rahmen gefaßten Theil
meiner Erfahrung, meines Lebens, in gehobener
und feierlicher Stimmung, aber in vollkommener
Ruhe begraben sah; noch heute weiß ich nicht,

man ſich draußen um das Grab, wo die ganze
Jugend, außergewoͤhnlicher Weiſe, einige ſorgfaͤltig
eingeuͤbte Figuralgeſaͤnge mit heller und reiner
Stimme ſang. Ich hatte mich dicht an den Rand
des Grabes geſtellt, waͤhrend die uͤbrigen Ver¬
wandten mit dem leidvollen Vater in der Kirche
blieben. Jetzt ward der Sarg hinabgelaſſen: der
Todtengraͤber reichte den Kranz und die Blumen
herauf, daß man ſie aufbewahre, und der arme
Sarg ſtand nun blank in der feuchten Tiefe. Der
Geſang dauerte fort, aber alle Frauen ſchluchzten.
Der letzte Sonnenſtrahl leuchtete nun durch die
Glasſcheibe in das bleiche Geſicht, das darunter
lag; das Gefuͤhl, das ich jetzt empfand, war ſo
ſeltſam, daß ich es nicht anders, als mit dem
fremden hochtrabenden und kalten Worte »objectiv«
benennen kann, welches die deutſche Aeſthetik er¬
funden hat. Ich glaube, die Glasſcheibe that es
mir an, daß ich das Gut, was ſie verſchloß,
gleich einem in Glas und Rahmen gefaßten Theil
meiner Erfahrung, meines Lebens, in gehobener
und feierlicher Stimmung, aber in vollkommener
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[157/0167] man ſich draußen um das Grab, wo die ganze Jugend, außergewoͤhnlicher Weiſe, einige ſorgfaͤltig eingeuͤbte Figuralgeſaͤnge mit heller und reiner Stimme ſang. Ich hatte mich dicht an den Rand des Grabes geſtellt, waͤhrend die uͤbrigen Ver¬ wandten mit dem leidvollen Vater in der Kirche blieben. Jetzt ward der Sarg hinabgelaſſen: der Todtengraͤber reichte den Kranz und die Blumen herauf, daß man ſie aufbewahre, und der arme Sarg ſtand nun blank in der feuchten Tiefe. Der Geſang dauerte fort, aber alle Frauen ſchluchzten. Der letzte Sonnenſtrahl leuchtete nun durch die Glasſcheibe in das bleiche Geſicht, das darunter lag; das Gefuͤhl, das ich jetzt empfand, war ſo ſeltſam, daß ich es nicht anders, als mit dem fremden hochtrabenden und kalten Worte »objectiv« benennen kann, welches die deutſche Aeſthetik er¬ funden hat. Ich glaube, die Glasſcheibe that es mir an, daß ich das Gut, was ſie verſchloß, gleich einem in Glas und Rahmen gefaßten Theil meiner Erfahrung, meines Lebens, in gehobener und feierlicher Stimmung, aber in vollkommener Ruhe begraben ſah; noch heute weiß ich nicht,

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854, S. 157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich03_1854/167>, abgerufen am 30.04.2024.