Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854.

Bild:
<< vorherige Seite

und wir so mit dem Gesichte gegen die Straße
gewendet ihm zuhörten, kam ein großer, mit sechs
Pferden bespannter Wagen angefahren, wie die
Auswanderer ihn herzurichten pflegen, welche sich
nach den französischen Häfen begeben. Dieser
Wagen war mit ansehnlichem Gute beladen und
schien einer oder zwei stattlichen Familien zu die¬
nen, die nach Amerika gingen. Zwei kräftige
Männer gingen neben den Pferden, vier oder
fünf Frauen saßen auf dem Wagen unter einem
bequemen Zeltdache, nebst mehreren Kindern und
selbst einem Greise. Aber diesen Leuten hatte sich
Judith angeschlossen; denn ich entdeckte sie, als
ich zufällig hinsah, hoch und schön unter den
Frauen, mit Reisekleidern angethan. Ich erschrak
heftig und das Herz schlug mir gewaltig, wäh¬
rend ich mich nicht regen noch rühren durfte.
Judith, welche im Vorüberfahren, wie mir schien,
mit finsterem Blicke auf die Soldatenreihe sah,
erschaute mich mitten in derselben und streckte so¬
gleich die Hände nach mir aus. Aber im gleichen
Augenblicke kommandirte unser Tyrann "Kehrt
Euch!" und führte uns wie ein Besessener im

und wir ſo mit dem Geſichte gegen die Straße
gewendet ihm zuhoͤrten, kam ein großer, mit ſechs
Pferden beſpannter Wagen angefahren, wie die
Auswanderer ihn herzurichten pflegen, welche ſich
nach den franzoͤſiſchen Haͤfen begeben. Dieſer
Wagen war mit anſehnlichem Gute beladen und
ſchien einer oder zwei ſtattlichen Familien zu die¬
nen, die nach Amerika gingen. Zwei kraͤftige
Maͤnner gingen neben den Pferden, vier oder
fuͤnf Frauen ſaßen auf dem Wagen unter einem
bequemen Zeltdache, nebſt mehreren Kindern und
ſelbſt einem Greiſe. Aber dieſen Leuten hatte ſich
Judith angeſchloſſen; denn ich entdeckte ſie, als
ich zufaͤllig hinſah, hoch und ſchoͤn unter den
Frauen, mit Reiſekleidern angethan. Ich erſchrak
heftig und das Herz ſchlug mir gewaltig, waͤh¬
rend ich mich nicht regen noch ruͤhren durfte.
Judith, welche im Voruͤberfahren, wie mir ſchien,
mit finſterem Blicke auf die Soldatenreihe ſah,
erſchaute mich mitten in derſelben und ſtreckte ſo¬
gleich die Haͤnde nach mir aus. Aber im gleichen
Augenblicke kommandirte unſer Tyrann »Kehrt
Euch!« und fuͤhrte uns wie ein Beſeſſener im

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0180" n="170"/>
und wir &#x017F;o mit dem Ge&#x017F;ichte gegen die Straße<lb/>
gewendet ihm zuho&#x0364;rten, kam ein großer, mit &#x017F;echs<lb/>
Pferden be&#x017F;pannter Wagen angefahren, wie die<lb/>
Auswanderer ihn herzurichten pflegen, welche &#x017F;ich<lb/>
nach den franzo&#x0364;&#x017F;i&#x017F;chen Ha&#x0364;fen begeben. Die&#x017F;er<lb/>
Wagen war mit an&#x017F;ehnlichem Gute beladen und<lb/>
&#x017F;chien einer oder zwei &#x017F;tattlichen Familien zu die¬<lb/>
nen, die nach Amerika gingen. Zwei kra&#x0364;ftige<lb/>
Ma&#x0364;nner gingen neben den Pferden, vier oder<lb/>
fu&#x0364;nf Frauen &#x017F;aßen auf dem Wagen unter einem<lb/>
bequemen Zeltdache, neb&#x017F;t mehreren Kindern und<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t einem Grei&#x017F;e. Aber die&#x017F;en Leuten hatte &#x017F;ich<lb/>
Judith ange&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en; denn ich entdeckte &#x017F;ie, als<lb/>
ich zufa&#x0364;llig hin&#x017F;ah, hoch und &#x017F;cho&#x0364;n unter den<lb/>
Frauen, mit Rei&#x017F;ekleidern angethan. Ich er&#x017F;chrak<lb/>
heftig und das Herz &#x017F;chlug mir gewaltig, wa&#x0364;<lb/>
rend ich mich nicht regen noch ru&#x0364;hren durfte.<lb/>
Judith, welche im Voru&#x0364;berfahren, wie mir &#x017F;chien,<lb/>
mit fin&#x017F;terem Blicke auf die Soldatenreihe &#x017F;ah,<lb/>
er&#x017F;chaute mich mitten in der&#x017F;elben und &#x017F;treckte &#x017F;<lb/>
gleich die Ha&#x0364;nde nach mir aus. Aber im gleichen<lb/>
Augenblicke kommandirte un&#x017F;er Tyrann »Kehrt<lb/>
Euch!« und fu&#x0364;hrte uns wie ein Be&#x017F;e&#x017F;&#x017F;ener im<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[170/0180] und wir ſo mit dem Geſichte gegen die Straße gewendet ihm zuhoͤrten, kam ein großer, mit ſechs Pferden beſpannter Wagen angefahren, wie die Auswanderer ihn herzurichten pflegen, welche ſich nach den franzoͤſiſchen Haͤfen begeben. Dieſer Wagen war mit anſehnlichem Gute beladen und ſchien einer oder zwei ſtattlichen Familien zu die¬ nen, die nach Amerika gingen. Zwei kraͤftige Maͤnner gingen neben den Pferden, vier oder fuͤnf Frauen ſaßen auf dem Wagen unter einem bequemen Zeltdache, nebſt mehreren Kindern und ſelbſt einem Greiſe. Aber dieſen Leuten hatte ſich Judith angeſchloſſen; denn ich entdeckte ſie, als ich zufaͤllig hinſah, hoch und ſchoͤn unter den Frauen, mit Reiſekleidern angethan. Ich erſchrak heftig und das Herz ſchlug mir gewaltig, waͤh¬ rend ich mich nicht regen noch ruͤhren durfte. Judith, welche im Voruͤberfahren, wie mir ſchien, mit finſterem Blicke auf die Soldatenreihe ſah, erſchaute mich mitten in derſelben und ſtreckte ſo¬ gleich die Haͤnde nach mir aus. Aber im gleichen Augenblicke kommandirte unſer Tyrann »Kehrt Euch!« und fuͤhrte uns wie ein Beſeſſener im

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich03_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich03_1854/180
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854, S. 170. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich03_1854/180>, abgerufen am 30.04.2024.