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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854.

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keitstrieb ebensowohl angeboren ist, ohne deswe¬
gen unsterblich zu sein. Da also beide, der Frei¬
heitssinn sowohl, wie das Unterthanenbewußtsein
im Menschen angeboren vorkommen, so kann kei¬
nes sich darauf berufen, um sich als die unbe¬
dingte Wahrheit darzustellen; aber beide bestehen
in der That um so kräftiger, als ihr Dasein
eben die Frucht tausendjährigen Wachsthumes ist.

Wo nun der Fall eintritt, daß der Gegenstand
eines angeborenen Glaubens und Fühlens, wel¬
ches durch Jahrtausende sich im Blut überliefert,
außer dieser körperlichen Welt sein soll, also gar
nicht vorhanden ist, da spielt das erhabenste
Trauer- und Lustspiel, wie es nur die ganze
Menschheit mit Allen, die je gelebt haben und
leben, spielen kann, und zu dessen Schauen es
wirklicher Götter bedürfte, wenn nicht eben diese
Menschheit aus der gleichen Gemüthstiefe, aus
welcher sie die große Tragikomödie dichtete, auch
das volle Verständniß zum Selbstgenuß schöpfen
könnte.

Zahllos sind die Verschlingungen und Varia¬
tionen des uralten Themas und erscheinen da

keitstrieb ebenſowohl angeboren iſt, ohne deswe¬
gen unſterblich zu ſein. Da alſo beide, der Frei¬
heitsſinn ſowohl, wie das Unterthanenbewußtſein
im Menſchen angeboren vorkommen, ſo kann kei¬
nes ſich darauf berufen, um ſich als die unbe¬
dingte Wahrheit darzuſtellen; aber beide beſtehen
in der That um ſo kraͤftiger, als ihr Daſein
eben die Frucht tauſendjaͤhrigen Wachsthumes iſt.

Wo nun der Fall eintritt, daß der Gegenſtand
eines angeborenen Glaubens und Fuͤhlens, wel¬
ches durch Jahrtauſende ſich im Blut uͤberliefert,
außer dieſer koͤrperlichen Welt ſein ſoll, alſo gar
nicht vorhanden iſt, da ſpielt das erhabenſte
Trauer- und Luſtſpiel, wie es nur die ganze
Menſchheit mit Allen, die je gelebt haben und
leben, ſpielen kann, und zu deſſen Schauen es
wirklicher Goͤtter beduͤrfte, wenn nicht eben dieſe
Menſchheit aus der gleichen Gemuͤthstiefe, aus
welcher ſie die große Tragikomoͤdie dichtete, auch
das volle Verſtaͤndniß zum Selbſtgenuß ſchoͤpfen
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[198/0208] keitstrieb ebenſowohl angeboren iſt, ohne deswe¬ gen unſterblich zu ſein. Da alſo beide, der Frei¬ heitsſinn ſowohl, wie das Unterthanenbewußtſein im Menſchen angeboren vorkommen, ſo kann kei¬ nes ſich darauf berufen, um ſich als die unbe¬ dingte Wahrheit darzuſtellen; aber beide beſtehen in der That um ſo kraͤftiger, als ihr Daſein eben die Frucht tauſendjaͤhrigen Wachsthumes iſt. Wo nun der Fall eintritt, daß der Gegenſtand eines angeborenen Glaubens und Fuͤhlens, wel¬ ches durch Jahrtauſende ſich im Blut uͤberliefert, außer dieſer koͤrperlichen Welt ſein ſoll, alſo gar nicht vorhanden iſt, da ſpielt das erhabenſte Trauer- und Luſtſpiel, wie es nur die ganze Menſchheit mit Allen, die je gelebt haben und leben, ſpielen kann, und zu deſſen Schauen es wirklicher Goͤtter beduͤrfte, wenn nicht eben dieſe Menſchheit aus der gleichen Gemuͤthstiefe, aus welcher ſie die große Tragikomoͤdie dichtete, auch das volle Verſtaͤndniß zum Selbſtgenuß ſchoͤpfen koͤnnte. Zahllos ſind die Verſchlingungen und Varia¬ tionen des uralten Themas und erſcheinen da

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854, S. 198. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich03_1854/208>, abgerufen am 27.04.2024.