Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

Bild:
<< vorherige Seite

dem Spruch: Alles zu seiner Zeit! und wenn
sie mit wenig Mühe das Schauspiel eines nach
ihren Begriffen noblen Balles geben und ge¬
nießen konnten, warum sollten sie es unterlassen?

Fritzchen Amrain war aber unter den Tan¬
zenden nicht zu erblicken und je länger ihn seine
Mutter mit den Augen suchte, desto weniger
fand sie ihn. Je länger sie ihn aber nicht fand,
desto mehr wünschte sie ihn zu sehen, nicht allein
mehr aus Besorgniß, sondern auch um wirklich
zu sehen, wie er sich eigentlich ausnähme und
ob er in seiner Dummheit nicht noch die Lächer¬
lichkeit zum Leichtsinn hinzugefügt habe, indem er
als eine ungeschickt angezogene schlottrige Weibs¬
person sich weiß Gott wo herumtreibe? In
diesen Untersuchungen gerieth sie auf einen Sei¬
tengang der hohen Gallerie, welcher mit einem
Fenster endigte, das mit einem Vorhang versehen
und bestimmt war, Licht in eben diesen Gang
einzulassen. Das Fenster aber ging in das klei¬
nere Rathszimmer, ein altes gothisches Gemach,
und war hoch an dessen Wand zu sehen. Wie
sie nun jenen Vorhang ein wenig lüftete und
in das tiefe Gemach hinunter schaute, welches

dem Spruch: Alles zu ſeiner Zeit! und wenn
ſie mit wenig Mühe das Schauſpiel eines nach
ihren Begriffen noblen Balles geben und ge¬
nießen konnten, warum ſollten ſie es unterlaſſen?

Fritzchen Amrain war aber unter den Tan¬
zenden nicht zu erblicken und je länger ihn ſeine
Mutter mit den Augen ſuchte, deſto weniger
fand ſie ihn. Je länger ſie ihn aber nicht fand,
deſto mehr wünſchte ſie ihn zu ſehen, nicht allein
mehr aus Beſorgniß, ſondern auch um wirklich
zu ſehen, wie er ſich eigentlich ausnähme und
ob er in ſeiner Dummheit nicht noch die Lächer¬
lichkeit zum Leichtſinn hinzugefügt habe, indem er
als eine ungeſchickt angezogene ſchlottrige Weibs¬
perſon ſich weiß Gott wo herumtreibe? In
dieſen Unterſuchungen gerieth ſie auf einen Sei¬
tengang der hohen Gallerie, welcher mit einem
Fenſter endigte, das mit einem Vorhang verſehen
und beſtimmt war, Licht in eben dieſen Gang
einzulaſſen. Das Fenſter aber ging in das klei¬
nere Rathszimmer, ein altes gothiſches Gemach,
und war hoch an deſſen Wand zu ſehen. Wie
ſie nun jenen Vorhang ein wenig lüftete und
in das tiefe Gemach hinunter ſchaute, welches

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0156" n="144"/>
dem Spruch: Alles zu &#x017F;einer Zeit! und wenn<lb/>
&#x017F;ie mit wenig Mühe das Schau&#x017F;piel eines nach<lb/>
ihren Begriffen noblen Balles geben und ge¬<lb/>
nießen konnten, warum &#x017F;ollten &#x017F;ie es unterla&#x017F;&#x017F;en?</p><lb/>
        <p>Fritzchen Amrain war aber unter den Tan¬<lb/>
zenden nicht zu erblicken und je länger ihn &#x017F;eine<lb/>
Mutter mit den Augen &#x017F;uchte, de&#x017F;to weniger<lb/>
fand &#x017F;ie ihn. Je länger &#x017F;ie ihn aber nicht fand,<lb/>
de&#x017F;to mehr wün&#x017F;chte &#x017F;ie ihn zu &#x017F;ehen, nicht allein<lb/>
mehr aus Be&#x017F;orgniß, &#x017F;ondern auch um wirklich<lb/>
zu &#x017F;ehen, wie er &#x017F;ich eigentlich ausnähme und<lb/>
ob er in &#x017F;einer Dummheit nicht noch die Lächer¬<lb/>
lichkeit zum Leicht&#x017F;inn hinzugefügt habe, indem er<lb/>
als eine unge&#x017F;chickt angezogene &#x017F;chlottrige Weibs¬<lb/>
per&#x017F;on &#x017F;ich weiß Gott wo herumtreibe? In<lb/>
die&#x017F;en Unter&#x017F;uchungen gerieth &#x017F;ie auf einen Sei¬<lb/>
tengang der hohen Gallerie, welcher mit einem<lb/>
Fen&#x017F;ter endigte, das mit einem Vorhang ver&#x017F;ehen<lb/>
und be&#x017F;timmt war, Licht in eben die&#x017F;en Gang<lb/>
einzula&#x017F;&#x017F;en. Das Fen&#x017F;ter aber ging in das klei¬<lb/>
nere Rathszimmer, ein altes gothi&#x017F;ches Gemach,<lb/>
und war hoch an de&#x017F;&#x017F;en Wand zu &#x017F;ehen. Wie<lb/>
&#x017F;ie nun jenen Vorhang ein wenig lüftete und<lb/>
in das tiefe Gemach hinunter &#x017F;chaute, welches<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[144/0156] dem Spruch: Alles zu ſeiner Zeit! und wenn ſie mit wenig Mühe das Schauſpiel eines nach ihren Begriffen noblen Balles geben und ge¬ nießen konnten, warum ſollten ſie es unterlaſſen? Fritzchen Amrain war aber unter den Tan¬ zenden nicht zu erblicken und je länger ihn ſeine Mutter mit den Augen ſuchte, deſto weniger fand ſie ihn. Je länger ſie ihn aber nicht fand, deſto mehr wünſchte ſie ihn zu ſehen, nicht allein mehr aus Beſorgniß, ſondern auch um wirklich zu ſehen, wie er ſich eigentlich ausnähme und ob er in ſeiner Dummheit nicht noch die Lächer¬ lichkeit zum Leichtſinn hinzugefügt habe, indem er als eine ungeſchickt angezogene ſchlottrige Weibs¬ perſon ſich weiß Gott wo herumtreibe? In dieſen Unterſuchungen gerieth ſie auf einen Sei¬ tengang der hohen Gallerie, welcher mit einem Fenſter endigte, das mit einem Vorhang verſehen und beſtimmt war, Licht in eben dieſen Gang einzulaſſen. Das Fenſter aber ging in das klei¬ nere Rathszimmer, ein altes gothiſches Gemach, und war hoch an deſſen Wand zu ſehen. Wie ſie nun jenen Vorhang ein wenig lüftete und in das tiefe Gemach hinunter ſchaute, welches

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/156
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/156>, abgerufen am 29.04.2024.