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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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in Stücken, indem sie sagte: das kann ich nun
wegwerfen, denn tragen werde ich es nie mehr!

"Warum denn?" sagte Fritz erstaunt und
wieder kleinlaut. "Wie werde ich, erwiederte
sie, ein Kleid ferner tragen, in welchem mein
Sohn unter liederlichen Weibern gesessen hat,
selber einem gleichsehend?" Und sie brach in
Thränen aus und hieß ihn zu Bette gehen.
"Hoho, sagte er, als er ging, das wird denn
doch nicht so gefährlich sein." Er konnte aber
nicht einschlafen, da sein Kopf sowohl von der
unterbrochenen Lustbarkeit als von den Worten
der Mutter aufgeregt war, so fand er also
Muße, über die Sache nachzudenken und fand,
daß die Mutter einigermaßen Recht habe; aber
er fand dies nur insofern, als er selbst die Leute
verachtete, mit denen er sich eben vergnügt hatte.
Auch fühlte er sich durch diese Auslegung eher
geschmeichelt in seinem Stolze, und erst, als die
Mutter am Morgen und die folgenden Tage
ernst und traurig blieb, kam er dem Grunde der
Sache näher. Es wurde kein Wort mehr dar¬
über gesprochen, aber Fritz war für einmal geret¬

in Stücken, indem ſie ſagte: das kann ich nun
wegwerfen, denn tragen werde ich es nie mehr!

»Warum denn?« ſagte Fritz erſtaunt und
wieder kleinlaut. »Wie werde ich, erwiederte
ſie, ein Kleid ferner tragen, in welchem mein
Sohn unter liederlichen Weibern geſeſſen hat,
ſelber einem gleichſehend?« Und ſie brach in
Thränen aus und hieß ihn zu Bette gehen.
»Hoho, ſagte er, als er ging, das wird denn
doch nicht ſo gefährlich ſein.« Er konnte aber
nicht einſchlafen, da ſein Kopf ſowohl von der
unterbrochenen Luſtbarkeit als von den Worten
der Mutter aufgeregt war, ſo fand er alſo
Muße, über die Sache nachzudenken und fand,
daß die Mutter einigermaßen Recht habe; aber
er fand dies nur inſofern, als er ſelbſt die Leute
verachtete, mit denen er ſich eben vergnügt hatte.
Auch fühlte er ſich durch dieſe Auslegung eher
geſchmeichelt in ſeinem Stolze, und erſt, als die
Mutter am Morgen und die folgenden Tage
ernſt und traurig blieb, kam er dem Grunde der
Sache näher. Es wurde kein Wort mehr dar¬
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[151/0163] in Stücken, indem ſie ſagte: das kann ich nun wegwerfen, denn tragen werde ich es nie mehr! »Warum denn?« ſagte Fritz erſtaunt und wieder kleinlaut. »Wie werde ich, erwiederte ſie, ein Kleid ferner tragen, in welchem mein Sohn unter liederlichen Weibern geſeſſen hat, ſelber einem gleichſehend?« Und ſie brach in Thränen aus und hieß ihn zu Bette gehen. »Hoho, ſagte er, als er ging, das wird denn doch nicht ſo gefährlich ſein.« Er konnte aber nicht einſchlafen, da ſein Kopf ſowohl von der unterbrochenen Luſtbarkeit als von den Worten der Mutter aufgeregt war, ſo fand er alſo Muße, über die Sache nachzudenken und fand, daß die Mutter einigermaßen Recht habe; aber er fand dies nur inſofern, als er ſelbſt die Leute verachtete, mit denen er ſich eben vergnügt hatte. Auch fühlte er ſich durch dieſe Auslegung eher geſchmeichelt in ſeinem Stolze, und erſt, als die Mutter am Morgen und die folgenden Tage ernſt und traurig blieb, kam er dem Grunde der Sache näher. Es wurde kein Wort mehr dar¬ über geſprochen, aber Fritz war für einmal geret¬

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 151. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/163>, abgerufen am 29.04.2024.