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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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richtig sei; tief erröthend machte er sich fort,
und als er über die Straße eilte und das rau¬
schende Kleid ihm so ungewohnt gegen die Füße
schlug, während der Nachtwächter ihm verdächtig
nachsah, merkte er erst recht, daß das eine unge¬
eignete Tracht wäre für einen jungen Republi¬
kaner, in der man Niemandem in's Gesicht sehen
dürfe. Als er aber zu Hause angekommen sich
hastig umkleidete, fiel es ihm ein, daß nun die
Mutter allein unter dem Volke auf dem Rath¬
hause sitze, und dieser Gedanke machte ihn plötz¬
lich und sonderbarer Weise so zornig und besorgt
um ihre Ehre, daß er sich beeilte nur wieder
hinzukommen und sie abzuholen. Auch glaubte
er ihr einen rechten Ritterdienst damit zu erwei¬
sen, daß er so pünktlich wieder erschien, und
alle etwaigen Unebenheiten dadurch auf's Schönste
ausgeglichen. Frau Amrain aber empfahl sich
der Gesellschaft und ging ernst und schweigsam
neben ihrem Sohne nach Hause. Dort setzte sie
sich seufzend auf ihren gewohnten Sessel und
schwieg eine Weile; dann aber stand sie auf,
ergriff das daliegende Staatskleid und zerriß es

richtig ſei; tief erröthend machte er ſich fort,
und als er über die Straße eilte und das rau¬
ſchende Kleid ihm ſo ungewohnt gegen die Füße
ſchlug, während der Nachtwächter ihm verdächtig
nachſah, merkte er erſt recht, daß das eine unge¬
eignete Tracht wäre für einen jungen Republi¬
kaner, in der man Niemandem in's Geſicht ſehen
dürfe. Als er aber zu Hauſe angekommen ſich
haſtig umkleidete, fiel es ihm ein, daß nun die
Mutter allein unter dem Volke auf dem Rath¬
hauſe ſitze, und dieſer Gedanke machte ihn plötz¬
lich und ſonderbarer Weiſe ſo zornig und beſorgt
um ihre Ehre, daß er ſich beeilte nur wieder
hinzukommen und ſie abzuholen. Auch glaubte
er ihr einen rechten Ritterdienſt damit zu erwei¬
ſen, daß er ſo pünktlich wieder erſchien, und
alle etwaigen Unebenheiten dadurch auf's Schönſte
ausgeglichen. Frau Amrain aber empfahl ſich
der Geſellſchaft und ging ernſt und ſchweigſam
neben ihrem Sohne nach Hauſe. Dort ſetzte ſie
ſich ſeufzend auf ihren gewohnten Seſſel und
ſchwieg eine Weile; dann aber ſtand ſie auf,
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[150/0162] richtig ſei; tief erröthend machte er ſich fort, und als er über die Straße eilte und das rau¬ ſchende Kleid ihm ſo ungewohnt gegen die Füße ſchlug, während der Nachtwächter ihm verdächtig nachſah, merkte er erſt recht, daß das eine unge¬ eignete Tracht wäre für einen jungen Republi¬ kaner, in der man Niemandem in's Geſicht ſehen dürfe. Als er aber zu Hauſe angekommen ſich haſtig umkleidete, fiel es ihm ein, daß nun die Mutter allein unter dem Volke auf dem Rath¬ hauſe ſitze, und dieſer Gedanke machte ihn plötz¬ lich und ſonderbarer Weiſe ſo zornig und beſorgt um ihre Ehre, daß er ſich beeilte nur wieder hinzukommen und ſie abzuholen. Auch glaubte er ihr einen rechten Ritterdienſt damit zu erwei¬ ſen, daß er ſo pünktlich wieder erſchien, und alle etwaigen Unebenheiten dadurch auf's Schönſte ausgeglichen. Frau Amrain aber empfahl ſich der Geſellſchaft und ging ernſt und ſchweigſam neben ihrem Sohne nach Hauſe. Dort ſetzte ſie ſich ſeufzend auf ihren gewohnten Seſſel und ſchwieg eine Weile; dann aber ſtand ſie auf, ergriff das daliegende Staatskleid und zerriß es

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/162>, abgerufen am 29.04.2024.