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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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als ich dann das unschuldige Geheimniß desselben erfuhr,
nahm ich den wärmsten Antheil an seinem Schicksal und
Wohlergehen. Die Frau war bei all' dem Außergewöhn¬
lichen ihres Lebensganges und trotz der Glücksumstände,
in die sie gerathen, die Bescheidenheit selbst, einfach, liebens¬
werth und dabei so ehrlich, wie ein junger Hund.

Wie ein Blitz aus heiterm Himmel traf eine Nach¬
richt aus Boston ein, in Folge welcher Erwin ohne einen
Tag zu verziehen nach Amerika abreisen mußte, um bei
der Ordnung gewisser Verhältnisse hilfreich zu sein, von
denen das Wohl der ganzen Familie abhing. Er ent¬
schloß sich augenblicklich zur Reise, entschied aber nach
einigem Schwanken, daß Regine über die paar Monate
seiner Abwesenheit hier zurückbleiben sollte. Die Herbst¬
stürme hatten eben begonnen und schon waren Nachrichten
von auf der See stattgehabten Unglücksfällen und ver¬
mißten Schiffen eingetroffen. Um keinen Preis wollte
er das Leben und die Gesundheit seiner Frau den Ge¬
fahren der Meerfahrt aussetzen; umsonst fiel sie ihm fast
zu Füßen und flehte wie ein Kind, sie mitzunehmen,
damit sie bei ihm sei: sobald er nur einen Blick auf ihre
Gestalt und ihr Gesicht warf, graute es ihm, dieses schöne
Geschöpf sich auf einem untergehenden Schiffe zu denken,
und so bitter ihm die zeitweilige Trennung auch war,
so zog er sie doch der offenbaren Gefährdung des theuersten
Wesens vor.

"Siehst Du, mein Kind," sagte er, indem er ihre

als ich dann das unſchuldige Geheimniß desſelben erfuhr,
nahm ich den wärmſten Antheil an ſeinem Schickſal und
Wohlergehen. Die Frau war bei all' dem Außergewöhn¬
lichen ihres Lebensganges und trotz der Glücksumſtände,
in die ſie gerathen, die Beſcheidenheit ſelbſt, einfach, liebens¬
werth und dabei ſo ehrlich, wie ein junger Hund.

Wie ein Blitz aus heiterm Himmel traf eine Nach¬
richt aus Boſton ein, in Folge welcher Erwin ohne einen
Tag zu verziehen nach Amerika abreiſen mußte, um bei
der Ordnung gewiſſer Verhältniſſe hilfreich zu ſein, von
denen das Wohl der ganzen Familie abhing. Er ent¬
ſchloß ſich augenblicklich zur Reiſe, entſchied aber nach
einigem Schwanken, daß Regine über die paar Monate
ſeiner Abweſenheit hier zurückbleiben ſollte. Die Herbſt¬
ſtürme hatten eben begonnen und ſchon waren Nachrichten
von auf der See ſtattgehabten Unglücksfällen und ver¬
mißten Schiffen eingetroffen. Um keinen Preis wollte
er das Leben und die Geſundheit ſeiner Frau den Ge¬
fahren der Meerfahrt ausſetzen; umſonſt fiel ſie ihm faſt
zu Füßen und flehte wie ein Kind, ſie mitzunehmen,
damit ſie bei ihm ſei: ſobald er nur einen Blick auf ihre
Geſtalt und ihr Geſicht warf, graute es ihm, dieſes ſchöne
Geſchöpf ſich auf einem untergehenden Schiffe zu denken,
und ſo bitter ihm die zeitweilige Trennung auch war,
ſo zog er ſie doch der offenbaren Gefährdung des theuerſten
Weſens vor.

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[102/0112] als ich dann das unſchuldige Geheimniß desſelben erfuhr, nahm ich den wärmſten Antheil an ſeinem Schickſal und Wohlergehen. Die Frau war bei all' dem Außergewöhn¬ lichen ihres Lebensganges und trotz der Glücksumſtände, in die ſie gerathen, die Beſcheidenheit ſelbſt, einfach, liebens¬ werth und dabei ſo ehrlich, wie ein junger Hund. Wie ein Blitz aus heiterm Himmel traf eine Nach¬ richt aus Boſton ein, in Folge welcher Erwin ohne einen Tag zu verziehen nach Amerika abreiſen mußte, um bei der Ordnung gewiſſer Verhältniſſe hilfreich zu ſein, von denen das Wohl der ganzen Familie abhing. Er ent¬ ſchloß ſich augenblicklich zur Reiſe, entſchied aber nach einigem Schwanken, daß Regine über die paar Monate ſeiner Abweſenheit hier zurückbleiben ſollte. Die Herbſt¬ ſtürme hatten eben begonnen und ſchon waren Nachrichten von auf der See ſtattgehabten Unglücksfällen und ver¬ mißten Schiffen eingetroffen. Um keinen Preis wollte er das Leben und die Geſundheit ſeiner Frau den Ge¬ fahren der Meerfahrt ausſetzen; umſonſt fiel ſie ihm faſt zu Füßen und flehte wie ein Kind, ſie mitzunehmen, damit ſie bei ihm ſei: ſobald er nur einen Blick auf ihre Geſtalt und ihr Geſicht warf, graute es ihm, dieſes ſchöne Geſchöpf ſich auf einem untergehenden Schiffe zu denken, und ſo bitter ihm die zeitweilige Trennung auch war, ſo zog er ſie doch der offenbaren Gefährdung des theuerſten Weſens vor. „Siehſt Du, mein Kind,“ ſagte er, indem er ihre

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/112>, abgerufen am 29.04.2024.