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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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holden Weibe das Bewußtsein zuführte, nicht als ein
Schulmeister, sondern mehr als ein aufmerksamer und
dankbarer Finder von allerlei kleinen Glücksfällen. In
Paris, wohin er sie nachher führte, galt es vorzugsweise,
durch das Auge zu lernen, und da er selbst Vieles zum
ersten Male sah, so lernte er mit ihr gemeinsam und
erklärte ihr gemächlich, was er soeben erfahren. Sie
nahm ihm die Neuigkeiten begierig vom Munde und
sammelte sie so geizig auf, wie ein junges Mädchen die
Blumen ihres Liebhabers. Und die kleinen Dinge, die
ein solches etwa in der Schule gelernt hat, wie das
Verständniß der Landkarte und dergleichen, wurden ganz
nebenbei, ohne allen Zeitverlust, betrieben. Nur wollte
einstweilen kein rechter Zusammenhang in die Sachen
kommen; auch beschäftigte es zuweilen Erwin's Gedanken,
daß Regine wohl allerlei Lehrhaftes aus seinem Munde
hören, nie aber solches für sich allein lesen wollte. Sie
brachte es nicht über sich, nur einige Seiten Geschichtliches
oder Beschauliches hintereinander in sich aufzunehmen,
und legte jedes Buch dieser Art bald weg. Doch hoffte
er nun, nachdem über alles Erwarten es bis jetzt so
herrlich gegangen, die Hauptsache eben in Deutschland zu
erreichen, und er stellte sich, in seinem Glücke immer
begieriger auf einen glänzenden Abschluß seines Bildungs¬
werkes geworden, nunmehr kühnere Anforderungen, als
er früher je gewagt haben würde. In diesem Zustande
war es, daß ich das merkwürdige Ehepaar vorfand, und

holden Weibe das Bewußtſein zuführte, nicht als ein
Schulmeiſter, ſondern mehr als ein aufmerkſamer und
dankbarer Finder von allerlei kleinen Glücksfällen. In
Paris, wohin er ſie nachher führte, galt es vorzugsweiſe,
durch das Auge zu lernen, und da er ſelbſt Vieles zum
erſten Male ſah, ſo lernte er mit ihr gemeinſam und
erklärte ihr gemächlich, was er ſoeben erfahren. Sie
nahm ihm die Neuigkeiten begierig vom Munde und
ſammelte ſie ſo geizig auf, wie ein junges Mädchen die
Blumen ihres Liebhabers. Und die kleinen Dinge, die
ein ſolches etwa in der Schule gelernt hat, wie das
Verſtändniß der Landkarte und dergleichen, wurden ganz
nebenbei, ohne allen Zeitverluſt, betrieben. Nur wollte
einſtweilen kein rechter Zuſammenhang in die Sachen
kommen; auch beſchäftigte es zuweilen Erwin's Gedanken,
daß Regine wohl allerlei Lehrhaftes aus ſeinem Munde
hören, nie aber ſolches für ſich allein leſen wollte. Sie
brachte es nicht über ſich, nur einige Seiten Geſchichtliches
oder Beſchauliches hintereinander in ſich aufzunehmen,
und legte jedes Buch dieſer Art bald weg. Doch hoffte
er nun, nachdem über alles Erwarten es bis jetzt ſo
herrlich gegangen, die Hauptſache eben in Deutſchland zu
erreichen, und er ſtellte ſich, in ſeinem Glücke immer
begieriger auf einen glänzenden Abſchluß ſeines Bildungs¬
werkes geworden, nunmehr kühnere Anforderungen, als
er früher je gewagt haben würde. In dieſem Zuſtande
war es, daß ich das merkwürdige Ehepaar vorfand, und

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[101/0111] holden Weibe das Bewußtſein zuführte, nicht als ein Schulmeiſter, ſondern mehr als ein aufmerkſamer und dankbarer Finder von allerlei kleinen Glücksfällen. In Paris, wohin er ſie nachher führte, galt es vorzugsweiſe, durch das Auge zu lernen, und da er ſelbſt Vieles zum erſten Male ſah, ſo lernte er mit ihr gemeinſam und erklärte ihr gemächlich, was er ſoeben erfahren. Sie nahm ihm die Neuigkeiten begierig vom Munde und ſammelte ſie ſo geizig auf, wie ein junges Mädchen die Blumen ihres Liebhabers. Und die kleinen Dinge, die ein ſolches etwa in der Schule gelernt hat, wie das Verſtändniß der Landkarte und dergleichen, wurden ganz nebenbei, ohne allen Zeitverluſt, betrieben. Nur wollte einſtweilen kein rechter Zuſammenhang in die Sachen kommen; auch beſchäftigte es zuweilen Erwin's Gedanken, daß Regine wohl allerlei Lehrhaftes aus ſeinem Munde hören, nie aber ſolches für ſich allein leſen wollte. Sie brachte es nicht über ſich, nur einige Seiten Geſchichtliches oder Beſchauliches hintereinander in ſich aufzunehmen, und legte jedes Buch dieſer Art bald weg. Doch hoffte er nun, nachdem über alles Erwarten es bis jetzt ſo herrlich gegangen, die Hauptſache eben in Deutſchland zu erreichen, und er ſtellte ſich, in ſeinem Glücke immer begieriger auf einen glänzenden Abſchluß ſeines Bildungs¬ werkes geworden, nunmehr kühnere Anforderungen, als er früher je gewagt haben würde. In dieſem Zuſtande war es, daß ich das merkwürdige Ehepaar vorfand, und

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/111>, abgerufen am 29.04.2024.