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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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zu lassen, wie nah' ihm das Original stehe. Er ließ es
verpacken und sandte es nach Boston, eh' er zu Schiffe
ging, nicht ohne den Vorsatz, ein wenig nachzuspüren,
wer eigentlich an der begangenen Taktlosigkeit die Schuld
trage. Denn diese maß er keineswegs der Regine bei,
obgleich er bei dem Anlaß einen kleinen Seufzer nicht
unterdrücken konnte, ob diese höhere, diese Taktfrage der
Bildung (oder wie er die Worte sich stellen mochte) sich
bis zu der immer näher rückenden Heimführung auch noch
vollständig lösen werde?

Nun, er kam also eines schönen Julimorgens an. Er
war die Nacht über gefahren, um schneller da zu sein.
Als er den Thorweg betrat, sah er durch eine offene
Thüre die Hausdienerschaft auf dem Hofe um einen Milch¬
mann versammelt und freute sich, seine Frau unversehens
überraschen zu können. Die Wohnung stand offen und
ganz still und er ging leise durch die Zimmer. Ver¬
wundert fand er im Gesellschaftssaal eine große Neuigkeit:
auf eigenem Postamente stand ein mehr als drei Fuß
hoher Gipsabguß der Venus von Milo, ein Namenstags¬
geschenk der drei Parzen; jede von ihnen besaß einen
gleichen Abguß, der zu Dutzenden in Paris bestellt wurde;
denn es war eine eigenthümliche Muckerei im Cultus dieses
ernsten Schönheitsbildes aufgekommen; allerlei Lüsternes
deckte sich mit der Anbetung des Bildes, und manche
Damen feierten gern die eigene Schönheit durch die heraus¬
fordernde Aufrichtung desselben auf ihren Hausaltären.

zu laſſen, wie nah' ihm das Original ſtehe. Er ließ es
verpacken und ſandte es nach Boſton, eh' er zu Schiffe
ging, nicht ohne den Vorſatz, ein wenig nachzuſpüren,
wer eigentlich an der begangenen Taktloſigkeit die Schuld
trage. Denn dieſe maß er keineswegs der Regine bei,
obgleich er bei dem Anlaß einen kleinen Seufzer nicht
unterdrücken konnte, ob dieſe höhere, dieſe Taktfrage der
Bildung (oder wie er die Worte ſich ſtellen mochte) ſich
bis zu der immer näher rückenden Heimführung auch noch
vollſtändig löſen werde?

Nun, er kam alſo eines ſchönen Julimorgens an. Er
war die Nacht über gefahren, um ſchneller da zu ſein.
Als er den Thorweg betrat, ſah er durch eine offene
Thüre die Hausdienerſchaft auf dem Hofe um einen Milch¬
mann verſammelt und freute ſich, ſeine Frau unverſehens
überraſchen zu können. Die Wohnung ſtand offen und
ganz ſtill und er ging leiſe durch die Zimmer. Ver¬
wundert fand er im Geſellſchaftsſaal eine große Neuigkeit:
auf eigenem Poſtamente ſtand ein mehr als drei Fuß
hoher Gipsabguß der Venus von Milo, ein Namenstags¬
geſchenk der drei Parzen; jede von ihnen beſaß einen
gleichen Abguß, der zu Dutzenden in Paris beſtellt wurde;
denn es war eine eigenthümliche Muckerei im Cultus dieſes
ernſten Schönheitsbildes aufgekommen; allerlei Lüſternes
deckte ſich mit der Anbetung des Bildes, und manche
Damen feierten gern die eigene Schönheit durch die heraus¬
fordernde Aufrichtung desſelben auf ihren Hausaltären.

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[130/0140] zu laſſen, wie nah' ihm das Original ſtehe. Er ließ es verpacken und ſandte es nach Boſton, eh' er zu Schiffe ging, nicht ohne den Vorſatz, ein wenig nachzuſpüren, wer eigentlich an der begangenen Taktloſigkeit die Schuld trage. Denn dieſe maß er keineswegs der Regine bei, obgleich er bei dem Anlaß einen kleinen Seufzer nicht unterdrücken konnte, ob dieſe höhere, dieſe Taktfrage der Bildung (oder wie er die Worte ſich ſtellen mochte) ſich bis zu der immer näher rückenden Heimführung auch noch vollſtändig löſen werde? Nun, er kam alſo eines ſchönen Julimorgens an. Er war die Nacht über gefahren, um ſchneller da zu ſein. Als er den Thorweg betrat, ſah er durch eine offene Thüre die Hausdienerſchaft auf dem Hofe um einen Milch¬ mann verſammelt und freute ſich, ſeine Frau unverſehens überraſchen zu können. Die Wohnung ſtand offen und ganz ſtill und er ging leiſe durch die Zimmer. Ver¬ wundert fand er im Geſellſchaftsſaal eine große Neuigkeit: auf eigenem Poſtamente ſtand ein mehr als drei Fuß hoher Gipsabguß der Venus von Milo, ein Namenstags¬ geſchenk der drei Parzen; jede von ihnen beſaß einen gleichen Abguß, der zu Dutzenden in Paris beſtellt wurde; denn es war eine eigenthümliche Muckerei im Cultus dieſes ernſten Schönheitsbildes aufgekommen; allerlei Lüſternes deckte ſich mit der Anbetung des Bildes, und manche Damen feierten gern die eigene Schönheit durch die heraus¬ fordernde Aufrichtung desſelben auf ihren Hausaltären.

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/140>, abgerufen am 29.04.2024.