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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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weiteren Kreisen bekannt gewesen, und die Parzen schienen
sich ausnahmsweise still zu halten. Ich ging nach einigen
Tagen mit einer Art Heimweh durch die Straße, wo
Altenauer's gewohnt, und sah an das Haus hinauf. Da
wurde so eben aus dem Portale ein niederes vierrädriges
Kärrchen gezogen, auf welchem die Venus von Milo stand
und ein wenig schwankte, obgleich sie mit Stricken fest¬
gebunden war. Ein Arbeiter hielt sie mit Gelächter auf¬
recht und rief: "hüh!", während der andere den Wagen
zog. Ich schaute ihr lange nach wie sie sich fort bewegte,
und dachte: So geht es, wenn schöne Leute unter das
Gesindel kommen! Ich glaubte, die Regine selbst dahin
schwanken zu sehen.

Drei Jahre später, als Regine längst todt war, traf
ich Erwin Altenauer als amerikanischen Geschäftsträger
in der gleichen Stadt wieder. Er hatte die Stelle ab¬
sichtlich gewählt, um durch seine Anwesenheit das Andenken
der Todten zu ehren und zu schützen, und von ihm erfuhr
ich den Abschluß der Geschichte; denn er liebte es, mit
mir von dieser Sache zu sprechen, da ich die Anfänge kannte.

Schon die Seefahrt nach dem Westen muß ein eigen¬
artiger Zustand von Unseligkeit gewesen sein. Die wochen¬
lange Beschränkung auf den engen Raum bei getrennten
Seelen, die doch im Innersten verbunden waren, das
wortkarge, einsilbige Dahinleben, ohne Absicht des Weh¬
thuns, die hundert gegenseitigen Hülfsleistungen mit nieder¬
geschlagenen Augen, das Herumirren dieser vier Augen

weiteren Kreiſen bekannt geweſen, und die Parzen ſchienen
ſich ausnahmsweiſe ſtill zu halten. Ich ging nach einigen
Tagen mit einer Art Heimweh durch die Straße, wo
Altenauer's gewohnt, und ſah an das Haus hinauf. Da
wurde ſo eben aus dem Portale ein niederes vierrädriges
Kärrchen gezogen, auf welchem die Venus von Milo ſtand
und ein wenig ſchwankte, obgleich ſie mit Stricken feſt¬
gebunden war. Ein Arbeiter hielt ſie mit Gelächter auf¬
recht und rief: „hüh!“, während der andere den Wagen
zog. Ich ſchaute ihr lange nach wie ſie ſich fort bewegte,
und dachte: So geht es, wenn ſchöne Leute unter das
Geſindel kommen! Ich glaubte, die Regine ſelbſt dahin
ſchwanken zu ſehen.

Drei Jahre ſpäter, als Regine längſt todt war, traf
ich Erwin Altenauer als amerikaniſchen Geſchäftsträger
in der gleichen Stadt wieder. Er hatte die Stelle ab¬
ſichtlich gewählt, um durch ſeine Anweſenheit das Andenken
der Todten zu ehren und zu ſchützen, und von ihm erfuhr
ich den Abſchluß der Geſchichte; denn er liebte es, mit
mir von dieſer Sache zu ſprechen, da ich die Anfänge kannte.

Schon die Seefahrt nach dem Weſten muß ein eigen¬
artiger Zuſtand von Unſeligkeit geweſen ſein. Die wochen¬
lange Beſchränkung auf den engen Raum bei getrennten
Seelen, die doch im Innerſten verbunden waren, das
wortkarge, einſilbige Dahinleben, ohne Abſicht des Weh¬
thuns, die hundert gegenſeitigen Hülfsleiſtungen mit nieder¬
geſchlagenen Augen, das Herumirren dieſer vier Augen

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[140/0150] weiteren Kreiſen bekannt geweſen, und die Parzen ſchienen ſich ausnahmsweiſe ſtill zu halten. Ich ging nach einigen Tagen mit einer Art Heimweh durch die Straße, wo Altenauer's gewohnt, und ſah an das Haus hinauf. Da wurde ſo eben aus dem Portale ein niederes vierrädriges Kärrchen gezogen, auf welchem die Venus von Milo ſtand und ein wenig ſchwankte, obgleich ſie mit Stricken feſt¬ gebunden war. Ein Arbeiter hielt ſie mit Gelächter auf¬ recht und rief: „hüh!“, während der andere den Wagen zog. Ich ſchaute ihr lange nach wie ſie ſich fort bewegte, und dachte: So geht es, wenn ſchöne Leute unter das Geſindel kommen! Ich glaubte, die Regine ſelbſt dahin ſchwanken zu ſehen. Drei Jahre ſpäter, als Regine längſt todt war, traf ich Erwin Altenauer als amerikaniſchen Geſchäftsträger in der gleichen Stadt wieder. Er hatte die Stelle ab¬ ſichtlich gewählt, um durch ſeine Anweſenheit das Andenken der Todten zu ehren und zu ſchützen, und von ihm erfuhr ich den Abſchluß der Geſchichte; denn er liebte es, mit mir von dieſer Sache zu ſprechen, da ich die Anfänge kannte. Schon die Seefahrt nach dem Weſten muß ein eigen¬ artiger Zuſtand von Unſeligkeit geweſen ſein. Die wochen¬ lange Beſchränkung auf den engen Raum bei getrennten Seelen, die doch im Innerſten verbunden waren, das wortkarge, einſilbige Dahinleben, ohne Abſicht des Weh¬ thuns, die hundert gegenſeitigen Hülfsleiſtungen mit nieder¬ geſchlagenen Augen, das Herumirren dieſer vier Augen

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/150>, abgerufen am 29.04.2024.