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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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auf der unendlichen Fläche und am verdämmernden
Horizonte des Oceans, in den Einsamkeiten des Himmels,
um vielleicht einen gemeinsamen Ruhepunkt zu suchen,
den sie in der Nähe nicht finden durften, Alles mußte
dazu beitragen, daß die Reise dem Dahinfahren zweier
verlorenen Schatten auf Wassern der Unterwelt ähnlich
war, wie es die Traumbilder alter Dichter schildern.
Schon das gedrängte Zusammensein mit einer Menge
fremder Menschen verhinderte natürlich den Austrag des
schmerzlichen Prozesses; aber auch ohne das that Regine
keinen Wank; sie schien sich vor dem Fallen einer
drohenden Masse und jedes Wörtlein zu fürchten, welches
dieselbe in Bewegung bringen konnte. Ebenso ängstlich
wie sie ihre Zunge hütete, überwachte sie auch jedes
Lächeln, das sich aus alter Gewohnheit etwa auf die
Lippen verirren wollte, wenn sie unverhofft einmal Erwin's
Auge begegnete. Er sah, wie es um den Mund zuckte,
bis die traurige Ruhe wieder darauf lag, und er war
überzeugt, daß sie damit jeden Verdacht auch der kleinsten
Anwandlung von Koketterie vermeiden wollte, oder nicht
sowol wollte als mußte. Welch' ein wunderbarer Wider¬
spruch, diese Kenntniß ihrer Natur, dieses Vertrauen, und
das dunkle Verhängniß.

Erwin aber scheute sich ebenso ängstlich vor dem
Beginn des Endes; nach dem bekannten Spruche konnte
er begreifen und verzeihen, aber er konnte nicht wieder¬
herstellen, und das wußte er.

auf der unendlichen Fläche und am verdämmernden
Horizonte des Oceans, in den Einſamkeiten des Himmels,
um vielleicht einen gemeinſamen Ruhepunkt zu ſuchen,
den ſie in der Nähe nicht finden durften, Alles mußte
dazu beitragen, daß die Reiſe dem Dahinfahren zweier
verlorenen Schatten auf Waſſern der Unterwelt ähnlich
war, wie es die Traumbilder alter Dichter ſchildern.
Schon das gedrängte Zuſammenſein mit einer Menge
fremder Menſchen verhinderte natürlich den Austrag des
ſchmerzlichen Prozeſſes; aber auch ohne das that Regine
keinen Wank; ſie ſchien ſich vor dem Fallen einer
drohenden Maſſe und jedes Wörtlein zu fürchten, welches
dieſelbe in Bewegung bringen konnte. Ebenſo ängſtlich
wie ſie ihre Zunge hütete, überwachte ſie auch jedes
Lächeln, das ſich aus alter Gewohnheit etwa auf die
Lippen verirren wollte, wenn ſie unverhofft einmal Erwin's
Auge begegnete. Er ſah, wie es um den Mund zuckte,
bis die traurige Ruhe wieder darauf lag, und er war
überzeugt, daß ſie damit jeden Verdacht auch der kleinſten
Anwandlung von Koketterie vermeiden wollte, oder nicht
ſowol wollte als mußte. Welch' ein wunderbarer Wider¬
ſpruch, dieſe Kenntniß ihrer Natur, dieſes Vertrauen, und
das dunkle Verhängniß.

Erwin aber ſcheute ſich ebenſo ängſtlich vor dem
Beginn des Endes; nach dem bekannten Spruche konnte
er begreifen und verzeihen, aber er konnte nicht wieder¬
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[141/0151] auf der unendlichen Fläche und am verdämmernden Horizonte des Oceans, in den Einſamkeiten des Himmels, um vielleicht einen gemeinſamen Ruhepunkt zu ſuchen, den ſie in der Nähe nicht finden durften, Alles mußte dazu beitragen, daß die Reiſe dem Dahinfahren zweier verlorenen Schatten auf Waſſern der Unterwelt ähnlich war, wie es die Traumbilder alter Dichter ſchildern. Schon das gedrängte Zuſammenſein mit einer Menge fremder Menſchen verhinderte natürlich den Austrag des ſchmerzlichen Prozeſſes; aber auch ohne das that Regine keinen Wank; ſie ſchien ſich vor dem Fallen einer drohenden Maſſe und jedes Wörtlein zu fürchten, welches dieſelbe in Bewegung bringen konnte. Ebenſo ängſtlich wie ſie ihre Zunge hütete, überwachte ſie auch jedes Lächeln, das ſich aus alter Gewohnheit etwa auf die Lippen verirren wollte, wenn ſie unverhofft einmal Erwin's Auge begegnete. Er ſah, wie es um den Mund zuckte, bis die traurige Ruhe wieder darauf lag, und er war überzeugt, daß ſie damit jeden Verdacht auch der kleinſten Anwandlung von Koketterie vermeiden wollte, oder nicht ſowol wollte als mußte. Welch' ein wunderbarer Wider¬ ſpruch, dieſe Kenntniß ihrer Natur, dieſes Vertrauen, und das dunkle Verhängniß. Erwin aber ſcheute ſich ebenſo ängſtlich vor dem Beginn des Endes; nach dem bekannten Spruche konnte er begreifen und verzeihen, aber er konnte nicht wieder¬ herſtellen, und das wußte er.

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 141. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/151>, abgerufen am 29.04.2024.