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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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als für sie da war, zufällig die schreckliche Nachricht las,
der Raubmörder sei endlich gefangen worden. Niemand
in der Stadt, außer mir, kannte ihren Namen, und so
achtete Niemand darauf. Was mich betraf, so las ich
überhaupt dergleichen Sachen nicht und blieb somit auch
in der Unwissenheit. Der Gefangene verrieth mit keiner
Silbe den Besuch bei der Schwester, obgleich er sich damit
über die bei ihm gefundene Baarschaft hatte ausweisen
können; es war dies bei aller Verkommenheit ein Zug
von Edelmuth. So lebte sie Wochen lang in der trost¬
losen Seelenstimmung dahin, bis sie plötzlich die Nachricht
und Beschreibung von der Hinrichtung las und alle Geister
der Verzweiflung auf sie einstürmten. Wie sollte Erwin
fernerhin mit der Schwester eines hingerichteten Raub¬
mörders leben? Wie der Ertrinkende am Grashalm hielt
sie sich an dem einzigen Gedanken, dessen sie fähig war:
Nur schweigen, schweigen!

Nach diesem ward ihr Selbstvertrauen zum Ueberfluß
noch erschüttert durch den Vorfall mit der Malerin. Sie
wußte nicht, daß das Bild in den Händen eines Mannes,
des Brasilianers war, und doch bekannte sie es jetzt als
eine Sünde, daß sie sich habe verleiten lassen. Sie habe
daraus den Schluß ziehen müssen, daß sie nicht die Sicher¬
heit und Kenntniß des Lebens besitze, die zur Erhaltung
von Ehre und Vertrauen erforderlich sei. Allerdings
hatte die Aermste ja annehmen müssen, die Malergeschichte
allein habe hingereicht, Erwin's Vertrauen zu unter¬

als für ſie da war, zufällig die ſchreckliche Nachricht las,
der Raubmörder ſei endlich gefangen worden. Niemand
in der Stadt, außer mir, kannte ihren Namen, und ſo
achtete Niemand darauf. Was mich betraf, ſo las ich
überhaupt dergleichen Sachen nicht und blieb ſomit auch
in der Unwiſſenheit. Der Gefangene verrieth mit keiner
Silbe den Beſuch bei der Schweſter, obgleich er ſich damit
über die bei ihm gefundene Baarſchaft hatte ausweiſen
können; es war dies bei aller Verkommenheit ein Zug
von Edelmuth. So lebte ſie Wochen lang in der troſt¬
loſen Seelenſtimmung dahin, bis ſie plötzlich die Nachricht
und Beſchreibung von der Hinrichtung las und alle Geiſter
der Verzweiflung auf ſie einſtürmten. Wie ſollte Erwin
fernerhin mit der Schweſter eines hingerichteten Raub¬
mörders leben? Wie der Ertrinkende am Grashalm hielt
ſie ſich an dem einzigen Gedanken, deſſen ſie fähig war:
Nur ſchweigen, ſchweigen!

Nach dieſem ward ihr Selbſtvertrauen zum Ueberfluß
noch erſchüttert durch den Vorfall mit der Malerin. Sie
wußte nicht, daß das Bild in den Händen eines Mannes,
des Braſilianers war, und doch bekannte ſie es jetzt als
eine Sünde, daß ſie ſich habe verleiten laſſen. Sie habe
daraus den Schluß ziehen müſſen, daß ſie nicht die Sicher¬
heit und Kenntniß des Lebens beſitze, die zur Erhaltung
von Ehre und Vertrauen erforderlich ſei. Allerdings
hatte die Aermſte ja annehmen müſſen, die Malergeſchichte
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[151/0161] als für ſie da war, zufällig die ſchreckliche Nachricht las, der Raubmörder ſei endlich gefangen worden. Niemand in der Stadt, außer mir, kannte ihren Namen, und ſo achtete Niemand darauf. Was mich betraf, ſo las ich überhaupt dergleichen Sachen nicht und blieb ſomit auch in der Unwiſſenheit. Der Gefangene verrieth mit keiner Silbe den Beſuch bei der Schweſter, obgleich er ſich damit über die bei ihm gefundene Baarſchaft hatte ausweiſen können; es war dies bei aller Verkommenheit ein Zug von Edelmuth. So lebte ſie Wochen lang in der troſt¬ loſen Seelenſtimmung dahin, bis ſie plötzlich die Nachricht und Beſchreibung von der Hinrichtung las und alle Geiſter der Verzweiflung auf ſie einſtürmten. Wie ſollte Erwin fernerhin mit der Schweſter eines hingerichteten Raub¬ mörders leben? Wie der Ertrinkende am Grashalm hielt ſie ſich an dem einzigen Gedanken, deſſen ſie fähig war: Nur ſchweigen, ſchweigen! Nach dieſem ward ihr Selbſtvertrauen zum Ueberfluß noch erſchüttert durch den Vorfall mit der Malerin. Sie wußte nicht, daß das Bild in den Händen eines Mannes, des Braſilianers war, und doch bekannte ſie es jetzt als eine Sünde, daß ſie ſich habe verleiten laſſen. Sie habe daraus den Schluß ziehen müſſen, daß ſie nicht die Sicher¬ heit und Kenntniß des Lebens beſitze, die zur Erhaltung von Ehre und Vertrauen erforderlich ſei. Allerdings hatte die Aermſte ja annehmen müſſen, die Malergeſchichte allein habe hingereicht, Erwin's Vertrauen zu unter¬

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 151. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/161>, abgerufen am 29.04.2024.