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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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Neuntes Capitel.
Die arme Baronin.

Er war zwar bald und fest eingeschlafen; doch der
neue Inhalt, die Schatzvermehrung seiner Gedanken weckte
ihn vor Tagesanbruch, wie wenn es ein lebendiges Wesen
außer ihm wäre, das freundlich seine Schulter berührte.
Er mußte sich lange besinnen, wo er sei, und erst als er
das von der Morgendämmerung erhellte Viereck des großen
Fensters aufmerksam betrachtete, kam er seinen gestrigen
Erlebnissen auf die Spur. Es wurde ihm beinahe feier¬
lich angenehm zu Muthe, und indem er in diesem Gefühle
so hindämmerte, entschlief er wieder und erwachte erst, als
das schöne Landgebiet, in das er hinausschaute, schon im
vollen Sonnenscheine lag und der Fluß weithin schimmerte.
In den Platanen war großes Vogelconcert, eine Schar
dieser Musikanten flatterte und saß an den Marmorschalen
des Brunnens, in dessen Nähe ein Tisch zum Frühstücke
gedeckt war.

"Lux, mein Licht! wo bleibst Du?" hörte er eine alte,
obwol noch kräftige Stimme rufen und sah darauf den

Neuntes Capitel.
Die arme Baronin.

Er war zwar bald und feſt eingeſchlafen; doch der
neue Inhalt, die Schatzvermehrung ſeiner Gedanken weckte
ihn vor Tagesanbruch, wie wenn es ein lebendiges Weſen
außer ihm wäre, das freundlich ſeine Schulter berührte.
Er mußte ſich lange beſinnen, wo er ſei, und erſt als er
das von der Morgendämmerung erhellte Viereck des großen
Fenſters aufmerkſam betrachtete, kam er ſeinen geſtrigen
Erlebniſſen auf die Spur. Es wurde ihm beinahe feier¬
lich angenehm zu Muthe, und indem er in dieſem Gefühle
ſo hindämmerte, entſchlief er wieder und erwachte erſt, als
das ſchöne Landgebiet, in das er hinausſchaute, ſchon im
vollen Sonnenſcheine lag und der Fluß weithin ſchimmerte.
In den Platanen war großes Vogelconcert, eine Schar
dieſer Muſikanten flatterte und ſaß an den Marmorſchalen
des Brunnens, in deſſen Nähe ein Tiſch zum Frühſtücke
gedeckt war.

„Lux, mein Licht! wo bleibſt Du?“ hörte er eine alte,
obwol noch kräftige Stimme rufen und ſah darauf den

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[[155]/0165] Neuntes Capitel. Die arme Baronin. Er war zwar bald und feſt eingeſchlafen; doch der neue Inhalt, die Schatzvermehrung ſeiner Gedanken weckte ihn vor Tagesanbruch, wie wenn es ein lebendiges Weſen außer ihm wäre, das freundlich ſeine Schulter berührte. Er mußte ſich lange beſinnen, wo er ſei, und erſt als er das von der Morgendämmerung erhellte Viereck des großen Fenſters aufmerkſam betrachtete, kam er ſeinen geſtrigen Erlebniſſen auf die Spur. Es wurde ihm beinahe feier¬ lich angenehm zu Muthe, und indem er in dieſem Gefühle ſo hindämmerte, entſchlief er wieder und erwachte erſt, als das ſchöne Landgebiet, in das er hinausſchaute, ſchon im vollen Sonnenſcheine lag und der Fluß weithin ſchimmerte. In den Platanen war großes Vogelconcert, eine Schar dieſer Muſikanten flatterte und ſaß an den Marmorſchalen des Brunnens, in deſſen Nähe ein Tiſch zum Frühſtücke gedeckt war. „Lux, mein Licht! wo bleibſt Du?“ hörte er eine alte, obwol noch kräftige Stimme rufen und ſah darauf den

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. [155]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/165>, abgerufen am 19.04.2024.