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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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er mußte jetzt trachten, die wilde Katze, wie er sie wegen
ihrer Unzugänglichkeit nannte, gegen ihren Willen ein
bischen zu füttern, nur vorsichtig und allmälig. Er gab
vor, zu einem späteren Frühstück, das er sonst außerhalb
einnahm, nicht mehr ausgehen zu wollen, und bestellte
sich eine tägliche Morgenmahlzeit mit Eiern, Schinken,
Butter und noch mehr Semmeln. Davon ließ er dann
den größeren Theil unberührt, in der Hoffnung, die arme
Kirchenmaus werde davon naschen. Das mochte auch
während einiger Tage geschehen; dann aber schien sie
den Handel zu wittern, wurde mißtrauisch und bemerkte
eines Morgens, er möchte entweder weniger bestellen oder
über die Reste in irgend einer Weise verfügen, und zuletzt
nahm sie auch die Semmel nicht mehr, die übrig blieb.
Da wußte er nun wieder nichts mit ihr anzufangen.

Eines Tages, als er von einem Ausgang nach Hause
kam, traf er sie auf dem Hausflur bei einer Gemüsefrau,
welche auf ihrem Kärrchen einen prächtigen Nelkenstock
zu verkaufen hatte, der trotz der vorgerückten Jahreszeit
noch ganz voll von hochrothen Nelken blühte. Die
Baronin nahm den Topf in die Hand und drückte schnell
ein wenig das Gesicht in die Blumen, offenbar von einem
Heimweh nach dergleichen ergriffen; sie fragte zögernd
um den Preis, schüttelte den Kopf, gab den Stock zurück
und schlurfte eilig davon. Brandolf erstand sogleich das
Gewächs, hoffend, es ihr noch auf der Treppe aufdringen
zu können; sie war aber schon in ihrem Malepartus

er mußte jetzt trachten, die wilde Katze, wie er ſie wegen
ihrer Unzugänglichkeit nannte, gegen ihren Willen ein
biſchen zu füttern, nur vorſichtig und allmälig. Er gab
vor, zu einem ſpäteren Frühſtück, das er ſonſt außerhalb
einnahm, nicht mehr ausgehen zu wollen, und beſtellte
ſich eine tägliche Morgenmahlzeit mit Eiern, Schinken,
Butter und noch mehr Semmeln. Davon ließ er dann
den größeren Theil unberührt, in der Hoffnung, die arme
Kirchenmaus werde davon naſchen. Das mochte auch
während einiger Tage geſchehen; dann aber ſchien ſie
den Handel zu wittern, wurde mißtrauiſch und bemerkte
eines Morgens, er möchte entweder weniger beſtellen oder
über die Reſte in irgend einer Weiſe verfügen, und zuletzt
nahm ſie auch die Semmel nicht mehr, die übrig blieb.
Da wußte er nun wieder nichts mit ihr anzufangen.

Eines Tages, als er von einem Ausgang nach Hauſe
kam, traf er ſie auf dem Hausflur bei einer Gemüſefrau,
welche auf ihrem Kärrchen einen prächtigen Nelkenſtock
zu verkaufen hatte, der trotz der vorgerückten Jahreszeit
noch ganz voll von hochrothen Nelken blühte. Die
Baronin nahm den Topf in die Hand und drückte ſchnell
ein wenig das Geſicht in die Blumen, offenbar von einem
Heimweh nach dergleichen ergriffen; ſie fragte zögernd
um den Preis, ſchüttelte den Kopf, gab den Stock zurück
und ſchlurfte eilig davon. Brandolf erſtand ſogleich das
Gewächs, hoffend, es ihr noch auf der Treppe aufdringen
zu können; ſie war aber ſchon in ihrem Malepartus

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[172/0182] er mußte jetzt trachten, die wilde Katze, wie er ſie wegen ihrer Unzugänglichkeit nannte, gegen ihren Willen ein biſchen zu füttern, nur vorſichtig und allmälig. Er gab vor, zu einem ſpäteren Frühſtück, das er ſonſt außerhalb einnahm, nicht mehr ausgehen zu wollen, und beſtellte ſich eine tägliche Morgenmahlzeit mit Eiern, Schinken, Butter und noch mehr Semmeln. Davon ließ er dann den größeren Theil unberührt, in der Hoffnung, die arme Kirchenmaus werde davon naſchen. Das mochte auch während einiger Tage geſchehen; dann aber ſchien ſie den Handel zu wittern, wurde mißtrauiſch und bemerkte eines Morgens, er möchte entweder weniger beſtellen oder über die Reſte in irgend einer Weiſe verfügen, und zuletzt nahm ſie auch die Semmel nicht mehr, die übrig blieb. Da wußte er nun wieder nichts mit ihr anzufangen. Eines Tages, als er von einem Ausgang nach Hauſe kam, traf er ſie auf dem Hausflur bei einer Gemüſefrau, welche auf ihrem Kärrchen einen prächtigen Nelkenſtock zu verkaufen hatte, der trotz der vorgerückten Jahreszeit noch ganz voll von hochrothen Nelken blühte. Die Baronin nahm den Topf in die Hand und drückte ſchnell ein wenig das Geſicht in die Blumen, offenbar von einem Heimweh nach dergleichen ergriffen; ſie fragte zögernd um den Preis, ſchüttelte den Kopf, gab den Stock zurück und ſchlurfte eilig davon. Brandolf erſtand ſogleich das Gewächs, hoffend, es ihr noch auf der Treppe aufdringen zu können; ſie war aber ſchon in ihrem Malepartus

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 172. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/182>, abgerufen am 29.04.2024.