Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

Bild:
<< vorherige Seite

verschwunden und er trug den Nelkenstock in seine
Wohnung, wo er denselben auf ein Tischlein stellte, das
er nebst einem Stuhle zum Lesen an ein Fenster gerückt
hatte. Sorgfältig legte er jedoch zur Schonung des
Tischchens einen Quartanten unter den Topf.

Später begab er sich wieder weg, um zu Tische zu
gehen, und da es zu regnen begann, versah er seine
Füße mit Gummischuhen. Daher war sein Schritt
unhörbar, als er nach einigen Stunden zurückkehrte und
in's Zimmer trat. Unter der geöffneten Thüre stehend
sah er die Frau auf dem Stuhle vor dem Nelkenstocke
sitzen, einen Staubwedel in der Hand. Sie lehnte müde
zurück und war eingeschlafen, die Hände mit dem Wedel
im Schoße. Leise schloß er die Thüre und schlich nach
dem Sopha, von wo aus er mit verschränkten Armen die
schlafende Frau aufmerksam betrachtete. Man konnte nicht
sagen, daß es gerade ein ausdrücklicher Gram war, der
auf dem Gesichte lagerte; es glich so zu sagen mehr einer
Abwesenheit jeder Lebensfreude und jeder Hoffnung, einer
Versammlung vieler Herrlichkeiten, die nicht da waren.
Einzig an den geschlossenen Wimpern schienen zwei Thränen
zu trocknen, aber ohne Weichmuth, wie ein par achtlos
verlorene Perlen.

Desto weichmüthiger wurde Brandolf von dem Anblick;
je länger er hinsah, um so enger schloß er ihn an's Herz;
er wünschte dies unbekannte Unglück sein nennen zu dürfen,
wie wenn es der schönste blühende Apfelzweig gewesen

verſchwunden und er trug den Nelkenſtock in ſeine
Wohnung, wo er denſelben auf ein Tiſchlein ſtellte, das
er nebſt einem Stuhle zum Leſen an ein Fenſter gerückt
hatte. Sorgfältig legte er jedoch zur Schonung des
Tiſchchens einen Quartanten unter den Topf.

Später begab er ſich wieder weg, um zu Tiſche zu
gehen, und da es zu regnen begann, verſah er ſeine
Füße mit Gummiſchuhen. Daher war ſein Schritt
unhörbar, als er nach einigen Stunden zurückkehrte und
in's Zimmer trat. Unter der geöffneten Thüre ſtehend
ſah er die Frau auf dem Stuhle vor dem Nelkenſtocke
ſitzen, einen Staubwedel in der Hand. Sie lehnte müde
zurück und war eingeſchlafen, die Hände mit dem Wedel
im Schoße. Leiſe ſchloß er die Thüre und ſchlich nach
dem Sopha, von wo aus er mit verſchränkten Armen die
ſchlafende Frau aufmerkſam betrachtete. Man konnte nicht
ſagen, daß es gerade ein ausdrücklicher Gram war, der
auf dem Geſichte lagerte; es glich ſo zu ſagen mehr einer
Abweſenheit jeder Lebensfreude und jeder Hoffnung, einer
Verſammlung vieler Herrlichkeiten, die nicht da waren.
Einzig an den geſchloſſenen Wimpern ſchienen zwei Thränen
zu trocknen, aber ohne Weichmuth, wie ein par achtlos
verlorene Perlen.

Deſto weichmüthiger wurde Brandolf von dem Anblick;
je länger er hinſah, um ſo enger ſchloß er ihn an's Herz;
er wünſchte dies unbekannte Unglück ſein nennen zu dürfen,
wie wenn es der ſchönſte blühende Apfelzweig geweſen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0183" n="173"/>
ver&#x017F;chwunden und er trug den Nelken&#x017F;tock in &#x017F;eine<lb/>
Wohnung, wo er den&#x017F;elben auf ein Ti&#x017F;chlein &#x017F;tellte, das<lb/>
er neb&#x017F;t einem Stuhle zum Le&#x017F;en an ein Fen&#x017F;ter gerückt<lb/>
hatte. Sorgfältig legte er jedoch zur Schonung des<lb/>
Ti&#x017F;chchens einen Quartanten unter den Topf.</p><lb/>
          <p>Später begab er &#x017F;ich wieder weg, um zu Ti&#x017F;che zu<lb/>
gehen, und da es zu regnen begann, ver&#x017F;ah er &#x017F;eine<lb/>
Füße mit Gummi&#x017F;chuhen. Daher war &#x017F;ein Schritt<lb/>
unhörbar, als er nach einigen Stunden zurückkehrte und<lb/>
in's Zimmer trat. Unter der geöffneten Thüre &#x017F;tehend<lb/>
&#x017F;ah er die Frau auf dem Stuhle vor dem Nelken&#x017F;tocke<lb/>
&#x017F;itzen, einen Staubwedel in der Hand. Sie lehnte müde<lb/>
zurück und war einge&#x017F;chlafen, die Hände mit dem Wedel<lb/>
im Schoße. Lei&#x017F;e &#x017F;chloß er die Thüre und &#x017F;chlich nach<lb/>
dem Sopha, von wo aus er mit ver&#x017F;chränkten Armen die<lb/>
&#x017F;chlafende Frau aufmerk&#x017F;am betrachtete. Man konnte nicht<lb/>
&#x017F;agen, daß es gerade ein ausdrücklicher Gram war, der<lb/>
auf dem Ge&#x017F;ichte lagerte; es glich &#x017F;o zu &#x017F;agen mehr einer<lb/>
Abwe&#x017F;enheit jeder Lebensfreude und jeder Hoffnung, einer<lb/>
Ver&#x017F;ammlung vieler Herrlichkeiten, die nicht da waren.<lb/>
Einzig an den ge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;enen Wimpern &#x017F;chienen zwei Thränen<lb/>
zu trocknen, aber ohne Weichmuth, wie ein par achtlos<lb/>
verlorene Perlen.</p><lb/>
          <p>De&#x017F;to weichmüthiger wurde Brandolf von dem Anblick;<lb/>
je länger er hin&#x017F;ah, um &#x017F;o enger &#x017F;chloß er ihn an's Herz;<lb/>
er wün&#x017F;chte dies unbekannte Unglück &#x017F;ein nennen zu dürfen,<lb/>
wie wenn es der &#x017F;chön&#x017F;te blühende Apfelzweig gewe&#x017F;en<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[173/0183] verſchwunden und er trug den Nelkenſtock in ſeine Wohnung, wo er denſelben auf ein Tiſchlein ſtellte, das er nebſt einem Stuhle zum Leſen an ein Fenſter gerückt hatte. Sorgfältig legte er jedoch zur Schonung des Tiſchchens einen Quartanten unter den Topf. Später begab er ſich wieder weg, um zu Tiſche zu gehen, und da es zu regnen begann, verſah er ſeine Füße mit Gummiſchuhen. Daher war ſein Schritt unhörbar, als er nach einigen Stunden zurückkehrte und in's Zimmer trat. Unter der geöffneten Thüre ſtehend ſah er die Frau auf dem Stuhle vor dem Nelkenſtocke ſitzen, einen Staubwedel in der Hand. Sie lehnte müde zurück und war eingeſchlafen, die Hände mit dem Wedel im Schoße. Leiſe ſchloß er die Thüre und ſchlich nach dem Sopha, von wo aus er mit verſchränkten Armen die ſchlafende Frau aufmerkſam betrachtete. Man konnte nicht ſagen, daß es gerade ein ausdrücklicher Gram war, der auf dem Geſichte lagerte; es glich ſo zu ſagen mehr einer Abweſenheit jeder Lebensfreude und jeder Hoffnung, einer Verſammlung vieler Herrlichkeiten, die nicht da waren. Einzig an den geſchloſſenen Wimpern ſchienen zwei Thränen zu trocknen, aber ohne Weichmuth, wie ein par achtlos verlorene Perlen. Deſto weichmüthiger wurde Brandolf von dem Anblick; je länger er hinſah, um ſo enger ſchloß er ihn an's Herz; er wünſchte dies unbekannte Unglück ſein nennen zu dürfen, wie wenn es der ſchönſte blühende Apfelzweig geweſen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/183
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 173. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/183>, abgerufen am 29.04.2024.