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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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ihm, schien ihn aber nicht zu erkennen; doch bat sie mit
schwacher Stimme hastig um Wasser. Stracks lief er in
die Küche zurück, fand dort Wasser und füllte ein Glas
damit. Er mußte ihr den Kopf heben, um ihr dasselbe
an den Mund zu bringen; mit beiden Händen hielt sie
seine Hand und das Glas fest und trank es begierig
aus. Dann legte sie den Kopf zurück, sah den fremden
Mann einen Augenblick an und schloß hierauf die Augen.

"Kennen Sie mich nicht? wie geht es Ihnen?" sagte
Brandolf und suchte an ihrem dünnen und weißen Hand¬
gelenk den Puls zu finden, der sich mit seinem heftigen
Jagen bald genug bemerklich machte. Als sie nicht ant¬
wortete, noch die Augen öffnete, eilte er zu der Haus¬
meisterin hinunter, die im Erdgeschoß hauste, und forderte
sie auf, zu der Erkrankten zu gehen und Hülfe zu leisten,
während er einen Arzt herbeihole. Er selbst machte sich
unverzüglich auf den Weg, dies zu thun; er war dem
bewährten Vorsteher eines Krankenhauses befreundet und
suchte ihn an der Stätte seiner vormittäglichen Thätigkeit
auf. Der Arzt beendete so rasch als möglich die noch
zu verrichtenden Geschäfte und fuhr dann unverweilt mit
dem Freunde, den er in seinen Wagen nahm, nach dessen
Wohnung. "Du hast da eine wunderliche Wirthin ge¬
wählt", sagte er scherzend; "am Ende, wenn sie stirbt,
bekommst Du noch Pflegekosten, Begräbniß und Grabstein
auf die Rechnung gesetzt und kannst alsdann ausziehen!"

"Nein, nein!" rief Brandolf, "sie darf nicht sterben!

ihm, ſchien ihn aber nicht zu erkennen; doch bat ſie mit
ſchwacher Stimme haſtig um Waſſer. Stracks lief er in
die Küche zurück, fand dort Waſſer und füllte ein Glas
damit. Er mußte ihr den Kopf heben, um ihr dasſelbe
an den Mund zu bringen; mit beiden Händen hielt ſie
ſeine Hand und das Glas feſt und trank es begierig
aus. Dann legte ſie den Kopf zurück, ſah den fremden
Mann einen Augenblick an und ſchloß hierauf die Augen.

„Kennen Sie mich nicht? wie geht es Ihnen?“ ſagte
Brandolf und ſuchte an ihrem dünnen und weißen Hand¬
gelenk den Puls zu finden, der ſich mit ſeinem heftigen
Jagen bald genug bemerklich machte. Als ſie nicht ant¬
wortete, noch die Augen öffnete, eilte er zu der Haus¬
meiſterin hinunter, die im Erdgeſchoß hauſte, und forderte
ſie auf, zu der Erkrankten zu gehen und Hülfe zu leiſten,
während er einen Arzt herbeihole. Er ſelbſt machte ſich
unverzüglich auf den Weg, dies zu thun; er war dem
bewährten Vorſteher eines Krankenhauſes befreundet und
ſuchte ihn an der Stätte ſeiner vormittäglichen Thätigkeit
auf. Der Arzt beendete ſo raſch als möglich die noch
zu verrichtenden Geſchäfte und fuhr dann unverweilt mit
dem Freunde, den er in ſeinen Wagen nahm, nach deſſen
Wohnung. „Du haſt da eine wunderliche Wirthin ge¬
wählt“, ſagte er ſcherzend; „am Ende, wenn ſie ſtirbt,
bekommſt Du noch Pflegekoſten, Begräbniß und Grabſtein
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[180/0190] ihm, ſchien ihn aber nicht zu erkennen; doch bat ſie mit ſchwacher Stimme haſtig um Waſſer. Stracks lief er in die Küche zurück, fand dort Waſſer und füllte ein Glas damit. Er mußte ihr den Kopf heben, um ihr dasſelbe an den Mund zu bringen; mit beiden Händen hielt ſie ſeine Hand und das Glas feſt und trank es begierig aus. Dann legte ſie den Kopf zurück, ſah den fremden Mann einen Augenblick an und ſchloß hierauf die Augen. „Kennen Sie mich nicht? wie geht es Ihnen?“ ſagte Brandolf und ſuchte an ihrem dünnen und weißen Hand¬ gelenk den Puls zu finden, der ſich mit ſeinem heftigen Jagen bald genug bemerklich machte. Als ſie nicht ant¬ wortete, noch die Augen öffnete, eilte er zu der Haus¬ meiſterin hinunter, die im Erdgeſchoß hauſte, und forderte ſie auf, zu der Erkrankten zu gehen und Hülfe zu leiſten, während er einen Arzt herbeihole. Er ſelbſt machte ſich unverzüglich auf den Weg, dies zu thun; er war dem bewährten Vorſteher eines Krankenhauſes befreundet und ſuchte ihn an der Stätte ſeiner vormittäglichen Thätigkeit auf. Der Arzt beendete ſo raſch als möglich die noch zu verrichtenden Geſchäfte und fuhr dann unverweilt mit dem Freunde, den er in ſeinen Wagen nahm, nach deſſen Wohnung. „Du haſt da eine wunderliche Wirthin ge¬ wählt“, ſagte er ſcherzend; „am Ende, wenn ſie ſtirbt, bekommſt Du noch Pflegekoſten, Begräbniß und Grabſtein auf die Rechnung geſetzt und kannſt alsdann ausziehen!“ „Nein, nein!“ rief Brandolf, „ſie darf nicht ſterben!

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 180. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/190>, abgerufen am 29.04.2024.