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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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Dergleichen Artigkeit hatte sie noch nie erlebt und vielleicht
auch niemals verlangt. Es war daher wie eine erste
Erfahrung in ihrem neu beginnenden Leben, und nach
Maßgabe der noch nicht zu Kräften gekommenen Herz¬
schläge verbreitete sich ein schwacher röthlicher Schimmer,
gleich demjenigen auf den Rosen, über die blassen Wangen.
Gleichzeitig verband sich mit dem Schimmer ein schon
lieblich ausgebildetes Lächeln, vielleicht auch zum ersten
Male in dieser Art und auf diesem Munde. Es erinnerte
fast an den Text eines alten Sinngedichtes, welches heißt:
Wie willst du weiße Lilien zu rothen Rosen machen?
Küß eine weiße Galathee, sie wird erröthend lachen. Von
einem Kusse war freilich da nicht die Rede.

Brandolf sorgte jetzt jeden Tag um etwas Erquickliches
für die Augen oder den Mund, wie es der Arzt erlaubte,
und die Genesende ließ es sich gefallen, da es ja doch ein
Ende nehmen mußte. Nach Ablauf einer weiteren Woche
verkündigte die Wärterin, daß die Baronin aufgestanden
sei und Brandolf sie im Lehnstuhle finden werde. So
war es auch. Sie trug ein bescheidenes altes Taftkleid
und ein schwarzes Spitzentüchlein um den Kopf; immerhin
sah man, daß sie dem Besuch Ehre zu erweisen wünschte.
Sie blickte mit sanftem Ernste zu ihm auf, als er Glück
wünschend eintrat und auf ihren Wink sich setzte.

"Wie ich damals mit einem Messer nach Ihrer Sohle
stach," sagte sie, "dachte ich nicht, daß ich einst so Ihnen
gegenüber sitzen werde!"

Dergleichen Artigkeit hatte ſie noch nie erlebt und vielleicht
auch niemals verlangt. Es war daher wie eine erſte
Erfahrung in ihrem neu beginnenden Leben, und nach
Maßgabe der noch nicht zu Kräften gekommenen Herz¬
ſchläge verbreitete ſich ein ſchwacher röthlicher Schimmer,
gleich demjenigen auf den Roſen, über die blaſſen Wangen.
Gleichzeitig verband ſich mit dem Schimmer ein ſchon
lieblich ausgebildetes Lächeln, vielleicht auch zum erſten
Male in dieſer Art und auf dieſem Munde. Es erinnerte
faſt an den Text eines alten Sinngedichtes, welches heißt:
Wie willſt du weiße Lilien zu rothen Roſen machen?
Küß eine weiße Galathee, ſie wird erröthend lachen. Von
einem Kuſſe war freilich da nicht die Rede.

Brandolf ſorgte jetzt jeden Tag um etwas Erquickliches
für die Augen oder den Mund, wie es der Arzt erlaubte,
und die Geneſende ließ es ſich gefallen, da es ja doch ein
Ende nehmen mußte. Nach Ablauf einer weiteren Woche
verkündigte die Wärterin, daß die Baronin aufgeſtanden
ſei und Brandolf ſie im Lehnſtuhle finden werde. So
war es auch. Sie trug ein beſcheidenes altes Taftkleid
und ein ſchwarzes Spitzentüchlein um den Kopf; immerhin
ſah man, daß ſie dem Beſuch Ehre zu erweiſen wünſchte.
Sie blickte mit ſanftem Ernſte zu ihm auf, als er Glück
wünſchend eintrat und auf ihren Wink ſich ſetzte.

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gegenüber ſitzen werde!“

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[188/0198] Dergleichen Artigkeit hatte ſie noch nie erlebt und vielleicht auch niemals verlangt. Es war daher wie eine erſte Erfahrung in ihrem neu beginnenden Leben, und nach Maßgabe der noch nicht zu Kräften gekommenen Herz¬ ſchläge verbreitete ſich ein ſchwacher röthlicher Schimmer, gleich demjenigen auf den Roſen, über die blaſſen Wangen. Gleichzeitig verband ſich mit dem Schimmer ein ſchon lieblich ausgebildetes Lächeln, vielleicht auch zum erſten Male in dieſer Art und auf dieſem Munde. Es erinnerte faſt an den Text eines alten Sinngedichtes, welches heißt: Wie willſt du weiße Lilien zu rothen Roſen machen? Küß eine weiße Galathee, ſie wird erröthend lachen. Von einem Kuſſe war freilich da nicht die Rede. Brandolf ſorgte jetzt jeden Tag um etwas Erquickliches für die Augen oder den Mund, wie es der Arzt erlaubte, und die Geneſende ließ es ſich gefallen, da es ja doch ein Ende nehmen mußte. Nach Ablauf einer weiteren Woche verkündigte die Wärterin, daß die Baronin aufgeſtanden ſei und Brandolf ſie im Lehnſtuhle finden werde. So war es auch. Sie trug ein beſcheidenes altes Taftkleid und ein ſchwarzes Spitzentüchlein um den Kopf; immerhin ſah man, daß ſie dem Beſuch Ehre zu erweiſen wünſchte. Sie blickte mit ſanftem Ernſte zu ihm auf, als er Glück wünſchend eintrat und auf ihren Wink ſich ſetzte. „Wie ich damals mit einem Meſſer nach Ihrer Sohle ſtach,“ ſagte ſie, „dachte ich nicht, daß ich einſt ſo Ihnen gegenüber ſitzen werde!“

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 188. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/198>, abgerufen am 29.04.2024.