Der Patholog hat auch eine Rubrik "Insgemein," in die er solche Erscheinungen einschiebt, die sich unter keine feste Grundsätze bringen lassen, welche sich aber doch brau- chen läßt, um das Unverstandene wenigstens durch das Wort verständlich zu machen, nicht aber der Sache nach zu erklären. Was im Innern des Organismus vorgehen muß, bis es zu einer Epilepsie, Catalepsie, St. Veitstanz, tonischen und klonischen Krämpfen, und zu dem großen Heer der hysterischen und hypochondrischen Zufälle kommen kann, weiß die Pathologie nicht. Die Nerven im Zusam- menhang mit den Gefühlen gebähren die Krankheiten des Gemeingefühls; die Nerven im Zusammenhang mit der Ein- bildungskraft gebähren die Visionen, Phantasmen, Ge- spenster und Schreckgestalten, welche der Seele ein objecti- ves Daseyn vorspiegeln, aber keines haben. Obgleich dieß nur in den Träumen der Fall ist, so kann doch ein solcher Zustand auch in das wachende Leben fallen und in ihm eine Reihe gleichförmig wiederkehrender Erscheinungen kör- perlich und geistig hervorbringen, welche, da uns die ge- heimen Kräfte und Gesetze verborgen sind, uns außerna- türlich scheinen und uns das Bild eines Besessenen auf- dringen. Ist die Einbildungskraft so lebhaft, daß sie die Vorstellung ganz verdrängt, so kann sie den Zusammenhang der wahren Persönlichkeit mit der Außenwelt gänzlich auf- heben, und alsdann tritt die Vision als falsche Persönlich- keit ganz in das Bewußtseyn und spielt daselbst kürzere oder längere Zeit so gut ihre Rolle, als wäre sie die wahre Persönlichkeit. Dem Umstehenden kommt es dann so vor, als wäre ein Dämon in die Person gefahren, während blos eine Vision Persönlichkeit annahm. Dieß ist der Er- klärungsgrund von den Scenen und Erscheinungen bey dem Mädchen von Orlach und der Frau U .. n von J .. m. Ihre Dämonen waren nichts anders, als persönlich gewor- dene Visionen. Spielt ja der Irre die Rolle eines Königs
Nerven-Anomalieen.
Der Patholog hat auch eine Rubrik „Insgemein,“ in die er ſolche Erſcheinungen einſchiebt, die ſich unter keine feſte Grundſätze bringen laſſen, welche ſich aber doch brau- chen läßt, um das Unverſtandene wenigſtens durch das Wort verſtändlich zu machen, nicht aber der Sache nach zu erklären. Was im Innern des Organismus vorgehen muß, bis es zu einer Epilepſie, Catalepſie, St. Veitstanz, toniſchen und kloniſchen Krämpfen, und zu dem großen Heer der hyſteriſchen und hypochondriſchen Zufälle kommen kann, weiß die Pathologie nicht. Die Nerven im Zuſam- menhang mit den Gefühlen gebähren die Krankheiten des Gemeingefühls; die Nerven im Zuſammenhang mit der Ein- bildungskraft gebähren die Viſionen, Phantasmen, Ge- ſpenſter und Schreckgeſtalten, welche der Seele ein objecti- ves Daſeyn vorſpiegeln, aber keines haben. Obgleich dieß nur in den Träumen der Fall iſt, ſo kann doch ein ſolcher Zuſtand auch in das wachende Leben fallen und in ihm eine Reihe gleichförmig wiederkehrender Erſcheinungen kör- perlich und geiſtig hervorbringen, welche, da uns die ge- heimen Kräfte und Geſetze verborgen ſind, uns außerna- türlich ſcheinen und uns das Bild eines Beſeſſenen auf- dringen. Iſt die Einbildungskraft ſo lebhaft, daß ſie die Vorſtellung ganz verdrängt, ſo kann ſie den Zuſammenhang der wahren Perſönlichkeit mit der Außenwelt gänzlich auf- heben, und alsdann tritt die Viſion als falſche Perſönlich- keit ganz in das Bewußtſeyn und ſpielt daſelbſt kürzere oder längere Zeit ſo gut ihre Rolle, als wäre ſie die wahre Perſönlichkeit. Dem Umſtehenden kommt es dann ſo vor, als wäre ein Dämon in die Perſon gefahren, während blos eine Viſion Perſönlichkeit annahm. Dieß iſt der Er- klärungsgrund von den Scenen und Erſcheinungen bey dem Mädchen von Orlach und der Frau U .. n von J .. m. Ihre Dämonen waren nichts anders, als perſönlich gewor- dene Viſionen. Spielt ja der Irre die Rolle eines Königs
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Nerven-Anomalieen.
Der Patholog hat auch eine Rubrik „Insgemein,“ in
die er ſolche Erſcheinungen einſchiebt, die ſich unter keine
feſte Grundſätze bringen laſſen, welche ſich aber doch brau-
chen läßt, um das Unverſtandene wenigſtens durch das
Wort verſtändlich zu machen, nicht aber der Sache nach
zu erklären. Was im Innern des Organismus vorgehen
muß, bis es zu einer Epilepſie, Catalepſie, St. Veitstanz,
toniſchen und kloniſchen Krämpfen, und zu dem großen
Heer der hyſteriſchen und hypochondriſchen Zufälle kommen
kann, weiß die Pathologie nicht. Die Nerven im Zuſam-
menhang mit den Gefühlen gebähren die Krankheiten des
Gemeingefühls; die Nerven im Zuſammenhang mit der Ein-
bildungskraft gebähren die Viſionen, Phantasmen, Ge-
ſpenſter und Schreckgeſtalten, welche der Seele ein objecti-
ves Daſeyn vorſpiegeln, aber keines haben. Obgleich dieß
nur in den Träumen der Fall iſt, ſo kann doch ein ſolcher
Zuſtand auch in das wachende Leben fallen und in ihm
eine Reihe gleichförmig wiederkehrender Erſcheinungen kör-
perlich und geiſtig hervorbringen, welche, da uns die ge-
heimen Kräfte und Geſetze verborgen ſind, uns außerna-
türlich ſcheinen und uns das Bild eines Beſeſſenen auf-
dringen. Iſt die Einbildungskraft ſo lebhaft, daß ſie die
Vorſtellung ganz verdrängt, ſo kann ſie den Zuſammenhang
der wahren Perſönlichkeit mit der Außenwelt gänzlich auf-
heben, und alsdann tritt die Viſion als falſche Perſönlich-
keit ganz in das Bewußtſeyn und ſpielt daſelbſt kürzere
oder längere Zeit ſo gut ihre Rolle, als wäre ſie die wahre
Perſönlichkeit. Dem Umſtehenden kommt es dann ſo vor,
als wäre ein Dämon in die Perſon gefahren, während
blos eine Viſion Perſönlichkeit annahm. Dieß iſt der Er-
klärungsgrund von den Scenen und Erſcheinungen bey dem
Mädchen von Orlach und der Frau U .. n von J .. m.
Ihre Dämonen waren nichts anders, als perſönlich gewor-
dene Viſionen. Spielt ja der Irre die Rolle eines Königs
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Kerner, Justinus: Geschichten Besessener neuerer Zeit. Karlsruhe, 1834, S. 174. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kerner_besessene_1834/188>, abgerufen am 11.12.2023.
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