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Kotzebue, August von: Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804. Bd. 1. Berlin, 1804.

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aufzuspritzen strebt; bis er sich endlich brüllend in eine
grundlose Felsenschlucht stürzt, und -- ganz von der Ober-
fläche der Erde verschwindet; dreihundert Schritte
weiter bricht er mit Ungestüm wieder hervor, um aufs
neue seiner Braut, der Saone, entgegen zu eilen. Die
Strecke Landes, unter der er tief im Schooß der Erde
fortrollt, ist oben mit ausgewaschenen und durchlöcherten
Felsenstücken bedeckt; denn in der Regenzeit ist das Grab,
welches den Rhone verschlingt und wieder ausspeit, zu
klein, um alle seine Gewässer zu verschlucken: sie wälzen
dann zum Theil sich oben fort, und so laufen zwei Flüsse
über einander, nur durch eine dünne Felsenschicht geschie-
den. -- Sie fahren weiter, und glauben jeden Augen-
blick, das Ende des Weges vor sich zu sehen; aber dort,
wo die Felsen sich zu schließen scheinen, krümmt sich plötz-
lich der Pfad zwischen ihnen hindurch, und eine neue ro-
mantische Welt öffnet sich Jhren erstaunten Blicken: bald
ist es ein kleiner See, der einem Erdfall gleicht; bald
sind es schroffe Felsen, an denen unbegreifliche Fußsteige
sich hinaufwinden, und wo Sie zwischen bizarr gethürm-
ten Steinmassen der Natur einen Weinberg abgetrotzt se-
hen; bald sind es einsame Mühlen an Klippen gelehnt,
von welchen sich Wasserfälle auf die Dächer herabzustür-
zen scheinen. Von ununterbrochenem Staunen gefesselt,
gerathen Sie so bis in die Gegend von Nantua, in ein
Thal, welches ich das Thal der Verzweiflung nennen möch-
te. Etwas so wild Schauerliches sah ich nie. Die ein-
zelnen zerstreuten Häuser scheint irgend ein Robinson er-
bauet zu haben, der in der großen Welt Schiffbruch litt.
Hier, wie auf Novazembla, ist die Sonne im Winter nicht
sichtbar: die schwarzen nackten Felsen wölben sich zum
Kerker, kein Vogelgesang mischt sich in das Rauschen der

aufzuspritzen strebt; bis er sich endlich bruͤllend in eine
grundlose Felsenschlucht stuͤrzt, und — ganz von der Ober-
flaͤche der Erde verschwindet; dreihundert Schritte
weiter bricht er mit Ungestuͤm wieder hervor, um aufs
neue seiner Braut, der Saone, entgegen zu eilen. Die
Strecke Landes, unter der er tief im Schooß der Erde
fortrollt, ist oben mit ausgewaschenen und durchloͤcherten
Felsenstuͤcken bedeckt; denn in der Regenzeit ist das Grab,
welches den Rhone verschlingt und wieder ausspeit, zu
klein, um alle seine Gewaͤsser zu verschlucken: sie waͤlzen
dann zum Theil sich oben fort, und so laufen zwei Fluͤsse
uͤber einander, nur durch eine duͤnne Felsenschicht geschie-
den. — Sie fahren weiter, und glauben jeden Augen-
blick, das Ende des Weges vor sich zu sehen; aber dort,
wo die Felsen sich zu schließen scheinen, kruͤmmt sich ploͤtz-
lich der Pfad zwischen ihnen hindurch, und eine neue ro-
mantische Welt oͤffnet sich Jhren erstaunten Blicken: bald
ist es ein kleiner See, der einem Erdfall gleicht; bald
sind es schroffe Felsen, an denen unbegreifliche Fußsteige
sich hinaufwinden, und wo Sie zwischen bizarr gethuͤrm-
ten Steinmassen der Natur einen Weinberg abgetrotzt se-
hen; bald sind es einsame Muͤhlen an Klippen gelehnt,
von welchen sich Wasserfaͤlle auf die Daͤcher herabzustuͤr-
zen scheinen. Von ununterbrochenem Staunen gefesselt,
gerathen Sie so bis in die Gegend von Nantua, in ein
Thal, welches ich das Thal der Verzweiflung nennen moͤch-
te. Etwas so wild Schauerliches sah ich nie. Die ein-
zelnen zerstreuten Haͤuser scheint irgend ein Robinson er-
bauet zu haben, der in der großen Welt Schiffbruch litt.
Hier, wie auf Novazembla, ist die Sonne im Winter nicht
sichtbar: die schwarzen nackten Felsen woͤlben sich zum
Kerker, kein Vogelgesang mischt sich in das Rauschen der

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[37/0041] aufzuspritzen strebt; bis er sich endlich bruͤllend in eine grundlose Felsenschlucht stuͤrzt, und — ganz von der Ober- flaͤche der Erde verschwindet; dreihundert Schritte weiter bricht er mit Ungestuͤm wieder hervor, um aufs neue seiner Braut, der Saone, entgegen zu eilen. Die Strecke Landes, unter der er tief im Schooß der Erde fortrollt, ist oben mit ausgewaschenen und durchloͤcherten Felsenstuͤcken bedeckt; denn in der Regenzeit ist das Grab, welches den Rhone verschlingt und wieder ausspeit, zu klein, um alle seine Gewaͤsser zu verschlucken: sie waͤlzen dann zum Theil sich oben fort, und so laufen zwei Fluͤsse uͤber einander, nur durch eine duͤnne Felsenschicht geschie- den. — Sie fahren weiter, und glauben jeden Augen- blick, das Ende des Weges vor sich zu sehen; aber dort, wo die Felsen sich zu schließen scheinen, kruͤmmt sich ploͤtz- lich der Pfad zwischen ihnen hindurch, und eine neue ro- mantische Welt oͤffnet sich Jhren erstaunten Blicken: bald ist es ein kleiner See, der einem Erdfall gleicht; bald sind es schroffe Felsen, an denen unbegreifliche Fußsteige sich hinaufwinden, und wo Sie zwischen bizarr gethuͤrm- ten Steinmassen der Natur einen Weinberg abgetrotzt se- hen; bald sind es einsame Muͤhlen an Klippen gelehnt, von welchen sich Wasserfaͤlle auf die Daͤcher herabzustuͤr- zen scheinen. Von ununterbrochenem Staunen gefesselt, gerathen Sie so bis in die Gegend von Nantua, in ein Thal, welches ich das Thal der Verzweiflung nennen moͤch- te. Etwas so wild Schauerliches sah ich nie. Die ein- zelnen zerstreuten Haͤuser scheint irgend ein Robinson er- bauet zu haben, der in der großen Welt Schiffbruch litt. Hier, wie auf Novazembla, ist die Sonne im Winter nicht sichtbar: die schwarzen nackten Felsen woͤlben sich zum Kerker, kein Vogelgesang mischt sich in das Rauschen der

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Zitationshilfe: Kotzebue, August von: Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804. Bd. 1. Berlin, 1804, S. 37. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kotzebue_erinnerungen01_1804/41>, abgerufen am 28.04.2024.