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Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888.

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geblich gesucht hatte. Groß und schwer rannen sie über die
Wangen. Alle waren tief erschüttert. Marie Beyer stand
am Fenster und schluchzte laut und vernehmlich und selbst ihr
ewig ernster Bruder mußte sich abwenden, um seine Verän¬
derung zu verbergen. Man begann, die Kränze festzunageln.
Bei den ersten Schlägen, die dumpf durch das Zimmer
schallten, mußte Timpe mit Gewalt zurückgerissen werden.
Er war dem Zusammenbrechen nahe.

Als der Sarg hinausgetragen wurde, fragte Wiesel den
Altgesellen: "Aber kommt denn sein Sohn nicht --?"

Thomas Beyer machte zu den beiden Gesellen eine ab¬
wehrende Bewegung: "Kein Wort darüber zu ihm, oder ihr
bekommt es mit mir zu thun", erwiderte er.

Trotz des Unwetters hatten sich doch Neugierige auf der
Straße versammelt, darunter einige Nachbarsleute, die unver¬
holen ihr Erstaunen über die eine Trauerkutsche und die
simple Droschke zweiter Klasse äußerten.

"Man sieht noch jarnischt von die reiche Verwandtschaft",
sagte eine dicke Frau, deren Stumpfnase fast ganz im fettigen
Gesicht verschwand.

"Sein einziger Sohn hat ja eene von die reichen Kirch¬
berg jeheirathet", fiel die lange Frau eines Budikers ein, die
wie ein Laternenpfahl die Gruppe überragte. "Die haben so¬
gar Equipage, aber ich sehe noch keene ... das scheint allens
so ohne Klang und Sang vorüberzujehen."

"Daß da etwas nicht richtig ist, habe ich mir schon lange
jedacht. Aber man verbrennt sich nicht gern den Mund",
mischte sich eine Dritte ins Gespräch.

"Es ist die alte Geschichte: Hochmuth kommt vor den
Fall", begann die Dicke wieder: "wie haben die Leute re¬

geblich geſucht hatte. Groß und ſchwer rannen ſie über die
Wangen. Alle waren tief erſchüttert. Marie Beyer ſtand
am Fenſter und ſchluchzte laut und vernehmlich und ſelbſt ihr
ewig ernſter Bruder mußte ſich abwenden, um ſeine Verän¬
derung zu verbergen. Man begann, die Kränze feſtzunageln.
Bei den erſten Schlägen, die dumpf durch das Zimmer
ſchallten, mußte Timpe mit Gewalt zurückgeriſſen werden.
Er war dem Zuſammenbrechen nahe.

Als der Sarg hinausgetragen wurde, fragte Wieſel den
Altgeſellen: „Aber kommt denn ſein Sohn nicht —?“

Thomas Beyer machte zu den beiden Geſellen eine ab¬
wehrende Bewegung: „Kein Wort darüber zu ihm, oder ihr
bekommt es mit mir zu thun“, erwiderte er.

Trotz des Unwetters hatten ſich doch Neugierige auf der
Straße verſammelt, darunter einige Nachbarsleute, die unver¬
holen ihr Erſtaunen über die eine Trauerkutſche und die
ſimple Droſchke zweiter Klaſſe äußerten.

„Man ſieht noch jarniſcht von die reiche Verwandtſchaft“,
ſagte eine dicke Frau, deren Stumpfnaſe faſt ganz im fettigen
Geſicht verſchwand.

„Sein einziger Sohn hat ja eene von die reichen Kirch¬
berg jeheirathet“, fiel die lange Frau eines Budikers ein, die
wie ein Laternenpfahl die Gruppe überragte. „Die haben ſo¬
gar Equipage, aber ich ſehe noch keene ... das ſcheint allens
ſo ohne Klang und Sang vorüberzujehen.“

„Daß da etwas nicht richtig iſt, habe ich mir ſchon lange
jedacht. Aber man verbrennt ſich nicht gern den Mund“,
miſchte ſich eine Dritte ins Geſpräch.

„Es iſt die alte Geſchichte: Hochmuth kommt vor den
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[251/0263] geblich geſucht hatte. Groß und ſchwer rannen ſie über die Wangen. Alle waren tief erſchüttert. Marie Beyer ſtand am Fenſter und ſchluchzte laut und vernehmlich und ſelbſt ihr ewig ernſter Bruder mußte ſich abwenden, um ſeine Verän¬ derung zu verbergen. Man begann, die Kränze feſtzunageln. Bei den erſten Schlägen, die dumpf durch das Zimmer ſchallten, mußte Timpe mit Gewalt zurückgeriſſen werden. Er war dem Zuſammenbrechen nahe. Als der Sarg hinausgetragen wurde, fragte Wieſel den Altgeſellen: „Aber kommt denn ſein Sohn nicht —?“ Thomas Beyer machte zu den beiden Geſellen eine ab¬ wehrende Bewegung: „Kein Wort darüber zu ihm, oder ihr bekommt es mit mir zu thun“, erwiderte er. Trotz des Unwetters hatten ſich doch Neugierige auf der Straße verſammelt, darunter einige Nachbarsleute, die unver¬ holen ihr Erſtaunen über die eine Trauerkutſche und die ſimple Droſchke zweiter Klaſſe äußerten. „Man ſieht noch jarniſcht von die reiche Verwandtſchaft“, ſagte eine dicke Frau, deren Stumpfnaſe faſt ganz im fettigen Geſicht verſchwand. „Sein einziger Sohn hat ja eene von die reichen Kirch¬ berg jeheirathet“, fiel die lange Frau eines Budikers ein, die wie ein Laternenpfahl die Gruppe überragte. „Die haben ſo¬ gar Equipage, aber ich ſehe noch keene ... das ſcheint allens ſo ohne Klang und Sang vorüberzujehen.“ „Daß da etwas nicht richtig iſt, habe ich mir ſchon lange jedacht. Aber man verbrennt ſich nicht gern den Mund“, miſchte ſich eine Dritte ins Geſpräch. „Es iſt die alte Geſchichte: Hochmuth kommt vor den Fall“, begann die Dicke wieder: „wie haben die Leute re¬

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Zitationshilfe: Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. 251. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/263>, abgerufen am 29.04.2024.