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Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888.

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Mußte er sich jetzt nicht näher um die Ziele bekümmern,
denen er gleich den Andern zustrebte? War es nicht seine
Pflicht, seit dieser Stunde eins zu sein mit den Arbeitern,
sich unter sie zu mischen, die große soziale Frage in den Ver¬
sammlungen erörtert zu hören? Zudem waren die Drechsler
seine Fachkollegen und die Knopfmacher verwandte Berufs¬
genossen. Die Versammlung mußte ihm also ein erhöhtes
Interesse bieten.

Es war merkwürdig, wie er sich nun von Beyer leiten
ließ. Mit einer gewissen Ehrfurcht blickte er zu ihm empor,
lauschte er auf jedes Wort, das über die Wahl von seinen
Lippen kam. Er bewunderte ihn, wenn die vorüberströmenden
Arbeiter, die um diese Stunde in hellen Haufen heran¬
gezogen kamen, ihn lebhaft begrüßten, und ihm jene Achtung
entgegenbrachten, die man einem Menschen zu zollen pflegt
dessen geistige Ueberlegenheit man anerkennen muß.

Beyer hatte sich vorgenommen, den Meister heute nicht
mehr zu verlassen. Er beauftragte einige Vertrauensmänner,
nach Schluß der Wahl dem Zählakte beizuwohnen und er¬
griff dann Timpe's Arm, um das Wiedersehen bei einem
Glase Bier zu feiern. Er schien nur noch Mitleid für den
früheren Arbeitgeber zu haben, nachdem er die Genugthuung
erlebt hatte, ihn bekehrt zu sehen. Das sprach aus jedem
Wort, aus jedem Blick, aus der Zartheit, mit der er ihn
behandelte, und wie er in ihm immer nur den altehrwürdigen
Mann sah, in dessen Hause er unzählige Wohlthaten ge¬
nossen hatte.

Timpe war schweigsam; still in sich gekehrt lauschte er den
Reden Beyers und nickte statt der Antwort mit dem Kopfe.
Ein niederdrückendes Gefühl lastete auf ihm: die Unbeholfen¬

Mußte er ſich jetzt nicht näher um die Ziele bekümmern,
denen er gleich den Andern zuſtrebte? War es nicht ſeine
Pflicht, ſeit dieſer Stunde eins zu ſein mit den Arbeitern,
ſich unter ſie zu miſchen, die große ſoziale Frage in den Ver¬
ſammlungen erörtert zu hören? Zudem waren die Drechsler
ſeine Fachkollegen und die Knopfmacher verwandte Berufs¬
genoſſen. Die Verſammlung mußte ihm alſo ein erhöhtes
Intereſſe bieten.

Es war merkwürdig, wie er ſich nun von Beyer leiten
ließ. Mit einer gewiſſen Ehrfurcht blickte er zu ihm empor,
lauſchte er auf jedes Wort, das über die Wahl von ſeinen
Lippen kam. Er bewunderte ihn, wenn die vorüberſtrömenden
Arbeiter, die um dieſe Stunde in hellen Haufen heran¬
gezogen kamen, ihn lebhaft begrüßten, und ihm jene Achtung
entgegenbrachten, die man einem Menſchen zu zollen pflegt
deſſen geiſtige Ueberlegenheit man anerkennen muß.

Beyer hatte ſich vorgenommen, den Meiſter heute nicht
mehr zu verlaſſen. Er beauftragte einige Vertrauensmänner,
nach Schluß der Wahl dem Zählakte beizuwohnen und er¬
griff dann Timpe's Arm, um das Wiederſehen bei einem
Glaſe Bier zu feiern. Er ſchien nur noch Mitleid für den
früheren Arbeitgeber zu haben, nachdem er die Genugthuung
erlebt hatte, ihn bekehrt zu ſehen. Das ſprach aus jedem
Wort, aus jedem Blick, aus der Zartheit, mit der er ihn
behandelte, und wie er in ihm immer nur den altehrwürdigen
Mann ſah, in deſſen Hauſe er unzählige Wohlthaten ge¬
noſſen hatte.

Timpe war ſchweigſam; ſtill in ſich gekehrt lauſchte er den
Reden Beyers und nickte ſtatt der Antwort mit dem Kopfe.
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[283/0295] Mußte er ſich jetzt nicht näher um die Ziele bekümmern, denen er gleich den Andern zuſtrebte? War es nicht ſeine Pflicht, ſeit dieſer Stunde eins zu ſein mit den Arbeitern, ſich unter ſie zu miſchen, die große ſoziale Frage in den Ver¬ ſammlungen erörtert zu hören? Zudem waren die Drechsler ſeine Fachkollegen und die Knopfmacher verwandte Berufs¬ genoſſen. Die Verſammlung mußte ihm alſo ein erhöhtes Intereſſe bieten. Es war merkwürdig, wie er ſich nun von Beyer leiten ließ. Mit einer gewiſſen Ehrfurcht blickte er zu ihm empor, lauſchte er auf jedes Wort, das über die Wahl von ſeinen Lippen kam. Er bewunderte ihn, wenn die vorüberſtrömenden Arbeiter, die um dieſe Stunde in hellen Haufen heran¬ gezogen kamen, ihn lebhaft begrüßten, und ihm jene Achtung entgegenbrachten, die man einem Menſchen zu zollen pflegt deſſen geiſtige Ueberlegenheit man anerkennen muß. Beyer hatte ſich vorgenommen, den Meiſter heute nicht mehr zu verlaſſen. Er beauftragte einige Vertrauensmänner, nach Schluß der Wahl dem Zählakte beizuwohnen und er¬ griff dann Timpe's Arm, um das Wiederſehen bei einem Glaſe Bier zu feiern. Er ſchien nur noch Mitleid für den früheren Arbeitgeber zu haben, nachdem er die Genugthuung erlebt hatte, ihn bekehrt zu ſehen. Das ſprach aus jedem Wort, aus jedem Blick, aus der Zartheit, mit der er ihn behandelte, und wie er in ihm immer nur den altehrwürdigen Mann ſah, in deſſen Hauſe er unzählige Wohlthaten ge¬ noſſen hatte. Timpe war ſchweigſam; ſtill in ſich gekehrt lauſchte er den Reden Beyers und nickte ſtatt der Antwort mit dem Kopfe. Ein niederdrückendes Gefühl laſtete auf ihm: die Unbeholfen¬

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Zitationshilfe: Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. 283. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/295>, abgerufen am 29.04.2024.