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Kugler, Franz: Die Incantada. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 15. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 81–146. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Bei diesen Wanderungen durch die Stadt ging Stuart eines Tages am Judenviertel vorüber. Ueber die Mauer, welche die enge Straße auf der einen Seite begrenzte und hier das Besitzthum der Juden abschloß, ragte in geringer Entfernung ein altes Marmorgebälk empor, getragen, wie es schien, von verschiedenartigen Gestalten menschlicher Bildung. Stuart sah in freudiger Ueberraschung, daß es sich hier um ein antikes Werk von vorzüglicher und eigenthümlicher Kunstschönheit handle; auch durfte er hoffen, hierin jenes Denkmal der Vorzeit gefunden zu haben, das schon von früheren Reisebeschreibern als der merkwürdigste unter den Ueberresten des alten Thessalonika bezeichnet war, und dem er bisher vergeblich nachgespürt hatte. Die enge Straße machte es unmöglich, mehr davon zu sehen. Er meinte, daß die obern Fenster der gegenüberstehenden Häuser Gelegenheit zum vollständigen Ueberblick geben müßten. Der Diener, der ihn begleitete, fand kein Bedenken, an die Thür des einen dieser Häuser, dessen dürftiges Aussehen voraussetzen ließ, daß der Wirth sich gegen eine Belohnung dem Begehren willfährig erweisen würde, anzupochen.

Das eintönig klagende Spiel einer Geige erscholl aus einem der offenstehenden Oberfenster des Hauses. Man schien drinnen das Pochen überhört zu haben. Da nicht sofort geöffnet ward, klopfte der Diener von Neuem und stärker an die Thür. Jetzt schwieg die Geige, und ein Grieche schaute zum Fenster heraus;

Bei diesen Wanderungen durch die Stadt ging Stuart eines Tages am Judenviertel vorüber. Ueber die Mauer, welche die enge Straße auf der einen Seite begrenzte und hier das Besitzthum der Juden abschloß, ragte in geringer Entfernung ein altes Marmorgebälk empor, getragen, wie es schien, von verschiedenartigen Gestalten menschlicher Bildung. Stuart sah in freudiger Ueberraschung, daß es sich hier um ein antikes Werk von vorzüglicher und eigenthümlicher Kunstschönheit handle; auch durfte er hoffen, hierin jenes Denkmal der Vorzeit gefunden zu haben, das schon von früheren Reisebeschreibern als der merkwürdigste unter den Ueberresten des alten Thessalonika bezeichnet war, und dem er bisher vergeblich nachgespürt hatte. Die enge Straße machte es unmöglich, mehr davon zu sehen. Er meinte, daß die obern Fenster der gegenüberstehenden Häuser Gelegenheit zum vollständigen Ueberblick geben müßten. Der Diener, der ihn begleitete, fand kein Bedenken, an die Thür des einen dieser Häuser, dessen dürftiges Aussehen voraussetzen ließ, daß der Wirth sich gegen eine Belohnung dem Begehren willfährig erweisen würde, anzupochen.

Das eintönig klagende Spiel einer Geige erscholl aus einem der offenstehenden Oberfenster des Hauses. Man schien drinnen das Pochen überhört zu haben. Da nicht sofort geöffnet ward, klopfte der Diener von Neuem und stärker an die Thür. Jetzt schwieg die Geige, und ein Grieche schaute zum Fenster heraus;

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[0034] Bei diesen Wanderungen durch die Stadt ging Stuart eines Tages am Judenviertel vorüber. Ueber die Mauer, welche die enge Straße auf der einen Seite begrenzte und hier das Besitzthum der Juden abschloß, ragte in geringer Entfernung ein altes Marmorgebälk empor, getragen, wie es schien, von verschiedenartigen Gestalten menschlicher Bildung. Stuart sah in freudiger Ueberraschung, daß es sich hier um ein antikes Werk von vorzüglicher und eigenthümlicher Kunstschönheit handle; auch durfte er hoffen, hierin jenes Denkmal der Vorzeit gefunden zu haben, das schon von früheren Reisebeschreibern als der merkwürdigste unter den Ueberresten des alten Thessalonika bezeichnet war, und dem er bisher vergeblich nachgespürt hatte. Die enge Straße machte es unmöglich, mehr davon zu sehen. Er meinte, daß die obern Fenster der gegenüberstehenden Häuser Gelegenheit zum vollständigen Ueberblick geben müßten. Der Diener, der ihn begleitete, fand kein Bedenken, an die Thür des einen dieser Häuser, dessen dürftiges Aussehen voraussetzen ließ, daß der Wirth sich gegen eine Belohnung dem Begehren willfährig erweisen würde, anzupochen. Das eintönig klagende Spiel einer Geige erscholl aus einem der offenstehenden Oberfenster des Hauses. Man schien drinnen das Pochen überhört zu haben. Da nicht sofort geöffnet ward, klopfte der Diener von Neuem und stärker an die Thür. Jetzt schwieg die Geige, und ein Grieche schaute zum Fenster heraus;

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T14:01:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T14:01:39Z)

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Zitationshilfe: Kugler, Franz: Die Incantada. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 15. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 81–146. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kugler_incantada_1910/34>, abgerufen am 26.04.2024.