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Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855.

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jauchzte laut auf. Zu gleicher Zeit erscholl auch in der Stube ein
Jauchzen und Gläsergeklirr. Die Glocke vom Thurm hatte den neuen
Zeitabschnitt zu verkündigen begonnen, der eigentlich mit jeder Se¬
cunde eintritt, der aber da, wo zugleich die Jahreszahl sich mit ihm
verändert, einen tieferen Eindruck auf den Menschen macht, und nach
alter Sitte stießen die Leute mit den Gläsern an und riefen einander Glück¬
wünsche auf das neue Jahr mit seinen noch verschleierten Geschicken zu.

Friedrich eilte in die Stube, ergriff sein Glas und stieß mit an.

Prosit's Neujahr! rief ihm der Invalide zu. Es lebe das Jahr
Siebenzehnhundert neun und vierzig! antwortete er.

Siebenzehnhundertfünfzig! schrie man ihm von allen Seiten ent¬
gegen, und der Rechnungsfehler wurde mit lautem Gelächter zurecht¬
gewiesen. Der will das Neujahr leben lassen und kann nicht hinein!
spottete Einer. Fünfzig schreibt man jetzt, und das zehn Jahr' lang,
mußt dich d'ran gewöhnen, sagte ein Anderer. Kannst nicht aus der
Zahl heraus, wo das Jahrhundert in sein Schwabenalter gekommen
ist? fragte ein Dritter.

Mag leicht sein, sagte Friedrich halblaut, so daß nur der Inva¬
lide es hören konnte: in dem Jahrzehnd, das sich mit Vierzig schreibt,
hat meine rechte Mutter noch gelebt, und da ist es wohl zu begreifen,
daß mir die Zahl wie eine alte Heimath ist, aus der man nicht gern
heraus mag. Also das Jahr Siebenzehnhundertfünfzig soll leben!
rief er, nochmals das Glas erhebend, und in seinem Herzen setzte er
hinzu: das Jahr, das mir Ersatz geben soll! Es war ihm, als ob
er jetzt wieder eine Mutter hätte. Er hielt es nicht lange in der Ge¬
sellschaft mehr aus. Es war still und sanft in ihm geworden und
diese innere Glückseligkeit taugte nicht zu dem was um ihn her vor¬
ging. Das Lachen und Johlen nahm überhand, und zwar um so
ungestörter, als die Polizei selbst sich daran betheiligte. Der Schütz,
der durch den Schrecken ziemlich nüchtern geworden war, hatte die neue
Gelegenheit zum Trinken nach Kräften benutzt und machte schon wieder
Riesenfortschritte in der Trunkenheit. Der Kübler hatte von seinen
fünf Sinnen keinen einzigen mehr ganz beisammen und belustigte die
Gesellschaft durch die grunzenden Laute, die er von sich gab. Bringet
die Noten im Kübel her, die S-- will singen! rief der Schütz, aber
während er sich über seinen Genossen lustig machen wollte, stürzte er

jauchzte laut auf. Zu gleicher Zeit erſcholl auch in der Stube ein
Jauchzen und Gläſergeklirr. Die Glocke vom Thurm hatte den neuen
Zeitabſchnitt zu verkündigen begonnen, der eigentlich mit jeder Se¬
cunde eintritt, der aber da, wo zugleich die Jahreszahl ſich mit ihm
verändert, einen tieferen Eindruck auf den Menſchen macht, und nach
alter Sitte ſtießen die Leute mit den Gläſern an und riefen einander Glück¬
wünſche auf das neue Jahr mit ſeinen noch verſchleierten Geſchicken zu.

Friedrich eilte in die Stube, ergriff ſein Glas und ſtieß mit an.

Proſit's Neujahr! rief ihm der Invalide zu. Es lebe das Jahr
Siebenzehnhundert neun und vierzig! antwortete er.

Siebenzehnhundertfünfzig! ſchrie man ihm von allen Seiten ent¬
gegen, und der Rechnungsfehler wurde mit lautem Gelächter zurecht¬
gewieſen. Der will das Neujahr leben laſſen und kann nicht hinein!
ſpottete Einer. Fünfzig ſchreibt man jetzt, und das zehn Jahr' lang,
mußt dich d'ran gewöhnen, ſagte ein Anderer. Kannſt nicht aus der
Zahl heraus, wo das Jahrhundert in ſein Schwabenalter gekommen
iſt? fragte ein Dritter.

Mag leicht ſein, ſagte Friedrich halblaut, ſo daß nur der Inva¬
lide es hören konnte: in dem Jahrzehnd, das ſich mit Vierzig ſchreibt,
hat meine rechte Mutter noch gelebt, und da iſt es wohl zu begreifen,
daß mir die Zahl wie eine alte Heimath iſt, aus der man nicht gern
heraus mag. Alſo das Jahr Siebenzehnhundertfünfzig ſoll leben!
rief er, nochmals das Glas erhebend, und in ſeinem Herzen ſetzte er
hinzu: das Jahr, das mir Erſatz geben ſoll! Es war ihm, als ob
er jetzt wieder eine Mutter hätte. Er hielt es nicht lange in der Ge¬
ſellſchaft mehr aus. Es war ſtill und ſanft in ihm geworden und
dieſe innere Glückſeligkeit taugte nicht zu dem was um ihn her vor¬
ging. Das Lachen und Johlen nahm überhand, und zwar um ſo
ungeſtörter, als die Polizei ſelbſt ſich daran betheiligte. Der Schütz,
der durch den Schrecken ziemlich nüchtern geworden war, hatte die neue
Gelegenheit zum Trinken nach Kräften benutzt und machte ſchon wieder
Rieſenfortſchritte in der Trunkenheit. Der Kübler hatte von ſeinen
fünf Sinnen keinen einzigen mehr ganz beiſammen und beluſtigte die
Geſellſchaft durch die grunzenden Laute, die er von ſich gab. Bringet
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[114/0130] jauchzte laut auf. Zu gleicher Zeit erſcholl auch in der Stube ein Jauchzen und Gläſergeklirr. Die Glocke vom Thurm hatte den neuen Zeitabſchnitt zu verkündigen begonnen, der eigentlich mit jeder Se¬ cunde eintritt, der aber da, wo zugleich die Jahreszahl ſich mit ihm verändert, einen tieferen Eindruck auf den Menſchen macht, und nach alter Sitte ſtießen die Leute mit den Gläſern an und riefen einander Glück¬ wünſche auf das neue Jahr mit ſeinen noch verſchleierten Geſchicken zu. Friedrich eilte in die Stube, ergriff ſein Glas und ſtieß mit an. Proſit's Neujahr! rief ihm der Invalide zu. Es lebe das Jahr Siebenzehnhundert neun und vierzig! antwortete er. Siebenzehnhundertfünfzig! ſchrie man ihm von allen Seiten ent¬ gegen, und der Rechnungsfehler wurde mit lautem Gelächter zurecht¬ gewieſen. Der will das Neujahr leben laſſen und kann nicht hinein! ſpottete Einer. Fünfzig ſchreibt man jetzt, und das zehn Jahr' lang, mußt dich d'ran gewöhnen, ſagte ein Anderer. Kannſt nicht aus der Zahl heraus, wo das Jahrhundert in ſein Schwabenalter gekommen iſt? fragte ein Dritter. Mag leicht ſein, ſagte Friedrich halblaut, ſo daß nur der Inva¬ lide es hören konnte: in dem Jahrzehnd, das ſich mit Vierzig ſchreibt, hat meine rechte Mutter noch gelebt, und da iſt es wohl zu begreifen, daß mir die Zahl wie eine alte Heimath iſt, aus der man nicht gern heraus mag. Alſo das Jahr Siebenzehnhundertfünfzig ſoll leben! rief er, nochmals das Glas erhebend, und in ſeinem Herzen ſetzte er hinzu: das Jahr, das mir Erſatz geben ſoll! Es war ihm, als ob er jetzt wieder eine Mutter hätte. Er hielt es nicht lange in der Ge¬ ſellſchaft mehr aus. Es war ſtill und ſanft in ihm geworden und dieſe innere Glückſeligkeit taugte nicht zu dem was um ihn her vor¬ ging. Das Lachen und Johlen nahm überhand, und zwar um ſo ungeſtörter, als die Polizei ſelbſt ſich daran betheiligte. Der Schütz, der durch den Schrecken ziemlich nüchtern geworden war, hatte die neue Gelegenheit zum Trinken nach Kräften benutzt und machte ſchon wieder Rieſenfortſchritte in der Trunkenheit. Der Kübler hatte von ſeinen fünf Sinnen keinen einzigen mehr ganz beiſammen und beluſtigte die Geſellſchaft durch die grunzenden Laute, die er von ſich gab. Bringet die Noten im Kübel her, die S— will ſingen! rief der Schütz, aber während er ſich über ſeinen Genoſſen luſtig machen wollte, ſtürzte er

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Zitationshilfe: Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855, S. 114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_sonnenwirth_1855/130>, abgerufen am 29.04.2024.