Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[La Roche, Sophie von]: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Bd. 2. Hrsg. v. Christoph Martin Wieland. Leipzig, 1771.

Bild:
<< vorherige Seite


sollen die Beweggründe sehen, die mich
dazu brachten, der Jungfer Lehne das
Verwaltungsamt zu geben. Sie wissen,
wie ich die arme Familie kennen lernte:
eben diese Person redte bey Frau Hills von
ihren Umständen. Jch bemerkte in ihrem
halb mitleidigen, halb anklagenden Ton
eine Art von Neid über die Wohlthaten,
welche jene genossen, und die Begierde, sie
allein an sich zu ziehen. Sie sprach zu-
gleich viel davon, wie sie es an der Stelle
von Frau G. machen würde. Jch är-
gerte mich, so kalte, und übelthätige Ue-
berbleibsel einer so stark gewesenen Jugend-
freundschaft anzutreffen, und hatte Muth
genug den Plan zu fassen, dieses halb ver-
moderte Herz zu dem Nutzen seiner ersten
Freundinn brauchbar zu machen. Jch
ließ sie nichts von meinen Betrachtungen
über sie merken, und sagte ihr nur, daß
sie mich in das Haus führen sollte. Der
Anblick des Elends, und die Zärtlichkeit,
welche ihr die Frau bewieß, rührte sie,
und in dieser Bewegung nahm ich sie in
mein Zimmer, las ihr meinen Plan vor,

und
II. Theil. G


ſollen die Beweggruͤnde ſehen, die mich
dazu brachten, der Jungfer Lehne das
Verwaltungsamt zu geben. Sie wiſſen,
wie ich die arme Familie kennen lernte:
eben dieſe Perſon redte bey Frau Hills von
ihren Umſtaͤnden. Jch bemerkte in ihrem
halb mitleidigen, halb anklagenden Ton
eine Art von Neid uͤber die Wohlthaten,
welche jene genoſſen, und die Begierde, ſie
allein an ſich zu ziehen. Sie ſprach zu-
gleich viel davon, wie ſie es an der Stelle
von Frau G. machen wuͤrde. Jch aͤr-
gerte mich, ſo kalte, und uͤbelthaͤtige Ue-
berbleibſel einer ſo ſtark geweſenen Jugend-
freundſchaft anzutreffen, und hatte Muth
genug den Plan zu faſſen, dieſes halb ver-
moderte Herz zu dem Nutzen ſeiner erſten
Freundinn brauchbar zu machen. Jch
ließ ſie nichts von meinen Betrachtungen
uͤber ſie merken, und ſagte ihr nur, daß
ſie mich in das Haus fuͤhren ſollte. Der
Anblick des Elends, und die Zaͤrtlichkeit,
welche ihr die Frau bewieß, ruͤhrte ſie,
und in dieſer Bewegung nahm ich ſie in
mein Zimmer, las ihr meinen Plan vor,

und
II. Theil. G
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0103" n="97"/><fw place="top" type="header"><lb/></fw> &#x017F;ollen die Beweggru&#x0364;nde &#x017F;ehen, die mich<lb/>
dazu brachten, der Jungfer Lehne das<lb/>
Verwaltungsamt zu geben. Sie wi&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
wie ich die arme Familie kennen lernte:<lb/>
eben die&#x017F;e Per&#x017F;on redte bey Frau Hills von<lb/>
ihren Um&#x017F;ta&#x0364;nden. Jch bemerkte in ihrem<lb/>
halb mitleidigen, halb anklagenden Ton<lb/>
eine Art von Neid u&#x0364;ber die Wohlthaten,<lb/>
welche jene geno&#x017F;&#x017F;en, und die Begierde, &#x017F;ie<lb/>
allein an &#x017F;ich zu ziehen. Sie &#x017F;prach zu-<lb/>
gleich viel davon, wie &#x017F;ie es an der Stelle<lb/>
von Frau G. machen wu&#x0364;rde. Jch a&#x0364;r-<lb/>
gerte mich, &#x017F;o kalte, und u&#x0364;beltha&#x0364;tige Ue-<lb/>
berbleib&#x017F;el einer &#x017F;o &#x017F;tark gewe&#x017F;enen Jugend-<lb/>
freund&#x017F;chaft anzutreffen, und hatte Muth<lb/>
genug den Plan zu fa&#x017F;&#x017F;en, die&#x017F;es halb ver-<lb/>
moderte Herz zu dem Nutzen &#x017F;einer er&#x017F;ten<lb/>
Freundinn brauchbar zu machen. Jch<lb/>
ließ &#x017F;ie nichts von meinen Betrachtungen<lb/>
u&#x0364;ber &#x017F;ie merken, und &#x017F;agte ihr nur, daß<lb/>
&#x017F;ie mich in das Haus fu&#x0364;hren &#x017F;ollte. Der<lb/>
Anblick des Elends, und die Za&#x0364;rtlichkeit,<lb/>
welche ihr die Frau bewieß, ru&#x0364;hrte &#x017F;ie,<lb/>
und in die&#x017F;er Bewegung nahm ich &#x017F;ie in<lb/>
mein Zimmer, las ihr meinen Plan vor,<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#aq">II.</hi><hi rendition="#fr">Theil.</hi> G</fw><fw place="bottom" type="catch">und</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[97/0103] ſollen die Beweggruͤnde ſehen, die mich dazu brachten, der Jungfer Lehne das Verwaltungsamt zu geben. Sie wiſſen, wie ich die arme Familie kennen lernte: eben dieſe Perſon redte bey Frau Hills von ihren Umſtaͤnden. Jch bemerkte in ihrem halb mitleidigen, halb anklagenden Ton eine Art von Neid uͤber die Wohlthaten, welche jene genoſſen, und die Begierde, ſie allein an ſich zu ziehen. Sie ſprach zu- gleich viel davon, wie ſie es an der Stelle von Frau G. machen wuͤrde. Jch aͤr- gerte mich, ſo kalte, und uͤbelthaͤtige Ue- berbleibſel einer ſo ſtark geweſenen Jugend- freundſchaft anzutreffen, und hatte Muth genug den Plan zu faſſen, dieſes halb ver- moderte Herz zu dem Nutzen ſeiner erſten Freundinn brauchbar zu machen. Jch ließ ſie nichts von meinen Betrachtungen uͤber ſie merken, und ſagte ihr nur, daß ſie mich in das Haus fuͤhren ſollte. Der Anblick des Elends, und die Zaͤrtlichkeit, welche ihr die Frau bewieß, ruͤhrte ſie, und in dieſer Bewegung nahm ich ſie in mein Zimmer, las ihr meinen Plan vor, und II. Theil. G

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/laroche_geschichte02_1771
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/laroche_geschichte02_1771/103
Zitationshilfe: [La Roche, Sophie von]: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Bd. 2. Hrsg. v. Christoph Martin Wieland. Leipzig, 1771, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laroche_geschichte02_1771/103>, abgerufen am 27.04.2024.