Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

Bild:
<< vorherige Seite

Scholastik: Gg. die mathematische Atomistik.
zu besitzen, diese Beweise erneuert zu haben; ihre allgemeine
Verbreitung haben sie dann durch Duns Scotus gewonnen.1
Sie wenden sich alle gegen die Auffassung, daß die Linien
aus unteilbaren Punkten von konstanter Größe bestehen, und
weisen nach, daß sich aus dieser Vorstellung Widersprüche
ergeben. Denn es folgt daraus, daß entweder der indivisible
Punkt noch teilbar ist, oder daß (um der Kürze wegen einen
Ausdruck der neueren Geometrie zu brauchen) alle perspektivisch
liegenden Gebilde gleich groß sind. Zur Erläuterung mag folgen-
der Beweis dienen, der die übrigen, welche auf gleichem Prinzip
ruhen, füglich vertreten kann. Es wird nämlich gesagt (s. Fig. 3,
S. 196): Wenn A und B zwei benachbarte Punkte eines Kreises
sind und CA und CB die zugehörigen Radien, so müssen diese
einen kleineren konzentrischen Kreis schneiden. Schneiden sie
diesen Kreis in zwei getrennten Punkten, so muß der kleinere
Kreis genau ebensoviel Punkte enthalten als der größere; und
da nun unteilbare Punkte in der Größe sich nicht unterscheiden
können, so müßte der kleinere Kreis gleich dem größeren sein,
was unmöglich ist. Schnitten die beiden Radien aber den
kleineren Kreis in zwei zusammenfallenden, d. h. in einem
einzigen Punkte, so entstände ein Widerspruch gegen den Satz,
daß zwischen zwei Punkten (A und D) nur eine einzige Gerade
möglich sei. Wollte man etwa annehmen, daß die beiden
Radien, obgleich sie beide durch den Punkt D gehen, doch
nicht zusammenfielen, so würde daraus folgen, daß dieser Punkt
selbst teilbar sei. Offenbar kann man diesen sogenannten Be-
weisen die mannigfaltigste Form geben, indem man von irgend
einem Strahlbüschel ausgeht und zwei beliebige Figuren in
demselben betrachtet, so daß nun je einem Punkte der einen
ein Punkt der andren entsprechen muß. Ersetzt man das
Strahlbüschel durch ein Bündel paralleler Strahlen, welche man
sich der Seite eines Quadrats parallel denkt, so ergibt sich,

von Baco und Scotus in vorliegender Frage sowie über die damit zusammen-
hängende Kontroverse über die Räumlichkeit der Engel. -- Zur Naturphiloso-
phie Bacos vgl. auch Goethe, Gesch. d. Farbenlehre XV. S. 472 ff.
1 Duns Scotus (Opera, Lugduni 1639) gibt seine Beweise im Kommentar
zur Physik, Lib. VI. physicorum, Quaest. I. § 4. Tom. II. p. 352 ff. und Lib.
II. Sentent. Distinct, II. Quaest. IX. Tom. VI. p. 230 ff.
13*

Scholastik: Gg. die mathematische Atomistik.
zu besitzen, diese Beweise erneuert zu haben; ihre allgemeine
Verbreitung haben sie dann durch Duns Scotus gewonnen.1
Sie wenden sich alle gegen die Auffassung, daß die Linien
aus unteilbaren Punkten von konstanter Größe bestehen, und
weisen nach, daß sich aus dieser Vorstellung Widersprüche
ergeben. Denn es folgt daraus, daß entweder der indivisible
Punkt noch teilbar ist, oder daß (um der Kürze wegen einen
Ausdruck der neueren Geometrie zu brauchen) alle perspektivisch
liegenden Gebilde gleich groß sind. Zur Erläuterung mag folgen-
der Beweis dienen, der die übrigen, welche auf gleichem Prinzip
ruhen, füglich vertreten kann. Es wird nämlich gesagt (s. Fig. 3,
S. 196): Wenn A und B zwei benachbarte Punkte eines Kreises
sind und CA und CB die zugehörigen Radien, so müssen diese
einen kleineren konzentrischen Kreis schneiden. Schneiden sie
diesen Kreis in zwei getrennten Punkten, so muß der kleinere
Kreis genau ebensoviel Punkte enthalten als der größere; und
da nun unteilbare Punkte in der Größe sich nicht unterscheiden
können, so müßte der kleinere Kreis gleich dem größeren sein,
was unmöglich ist. Schnitten die beiden Radien aber den
kleineren Kreis in zwei zusammenfallenden, d. h. in einem
einzigen Punkte, so entstände ein Widerspruch gegen den Satz,
daß zwischen zwei Punkten (A und D) nur eine einzige Gerade
möglich sei. Wollte man etwa annehmen, daß die beiden
Radien, obgleich sie beide durch den Punkt D gehen, doch
nicht zusammenfielen, so würde daraus folgen, daß dieser Punkt
selbst teilbar sei. Offenbar kann man diesen sogenannten Be-
weisen die mannigfaltigste Form geben, indem man von irgend
einem Strahlbüschel ausgeht und zwei beliebige Figuren in
demselben betrachtet, so daß nun je einem Punkte der einen
ein Punkt der andren entsprechen muß. Ersetzt man das
Strahlbüschel durch ein Bündel paralleler Strahlen, welche man
sich der Seite eines Quadrats parallel denkt, so ergibt sich,

von Baco und Scotus in vorliegender Frage sowie über die damit zusammen-
hängende Kontroverse über die Räumlichkeit der Engel. — Zur Naturphiloso-
phie Bacos vgl. auch Goethe, Gesch. d. Farbenlehre XV. S. 472 ff.
1 Duns Scotus (Opera, Lugduni 1639) gibt seine Beweise im Kommentar
zur Physik, Lib. VI. physicorum, Quaest. I. § 4. Tom. II. p. 352 ff. und Lib.
II. Sentent. Distinct, II. Quaest. IX. Tom. VI. p. 230 ff.
13*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0213" n="195"/><fw place="top" type="header">Scholastik: Gg. die mathematische Atomistik.</fw><lb/>
zu besitzen, diese Beweise erneuert zu haben; ihre allgemeine<lb/>
Verbreitung haben sie dann durch <hi rendition="#k">Duns Scotus</hi> gewonnen.<note place="foot" n="1"><hi rendition="#k">Duns Scotus</hi><hi rendition="#i">(Opera</hi>, Lugduni 1639) gibt seine Beweise im Kommentar<lb/>
zur Physik, Lib. VI. physicorum, Quaest. I. § 4. Tom. II. p. 352 ff. und Lib.<lb/>
II. <hi rendition="#i">Sentent.</hi> Distinct, II. Quaest. IX. Tom. VI. p. 230 ff.</note><lb/>
Sie wenden sich alle gegen die Auffassung, daß die Linien<lb/>
aus unteilbaren Punkten von konstanter Größe bestehen, und<lb/>
weisen nach, daß sich aus dieser Vorstellung Widersprüche<lb/>
ergeben. Denn es folgt daraus, daß entweder der indivisible<lb/>
Punkt noch teilbar ist, oder daß (um der Kürze wegen einen<lb/>
Ausdruck der neueren Geometrie zu brauchen) alle perspektivisch<lb/>
liegenden Gebilde gleich groß sind. Zur Erläuterung mag folgen-<lb/>
der Beweis dienen, der die übrigen, welche auf gleichem Prinzip<lb/>
ruhen, füglich vertreten kann. Es wird nämlich gesagt (s. Fig. 3,<lb/>
S. 196): Wenn <hi rendition="#i">A</hi> und <hi rendition="#i">B</hi> zwei benachbarte Punkte eines Kreises<lb/>
sind und <hi rendition="#i">CA</hi> und <hi rendition="#i">CB</hi> die zugehörigen Radien, so müssen diese<lb/>
einen kleineren konzentrischen Kreis schneiden. Schneiden sie<lb/>
diesen Kreis in zwei getrennten Punkten, so muß der kleinere<lb/>
Kreis genau ebensoviel Punkte enthalten als der größere; und<lb/>
da nun unteilbare Punkte in der Größe sich nicht unterscheiden<lb/>
können, so müßte der kleinere Kreis gleich dem größeren sein,<lb/>
was unmöglich ist. Schnitten die beiden Radien aber den<lb/>
kleineren Kreis in zwei zusammenfallenden, d. h. in einem<lb/>
einzigen Punkte, so entstände ein Widerspruch gegen den Satz,<lb/>
daß zwischen zwei Punkten (<hi rendition="#i">A</hi> und <hi rendition="#i">D</hi>) nur eine einzige Gerade<lb/>
möglich sei. Wollte man etwa annehmen, daß die beiden<lb/>
Radien, obgleich sie beide durch den Punkt <hi rendition="#i">D</hi> gehen, doch<lb/>
nicht zusammenfielen, so würde daraus folgen, daß dieser Punkt<lb/>
selbst teilbar sei. Offenbar kann man diesen sogenannten Be-<lb/>
weisen die mannigfaltigste Form geben, indem man von irgend<lb/>
einem Strahlbüschel ausgeht und zwei beliebige Figuren in<lb/>
demselben betrachtet, so daß nun je einem Punkte der einen<lb/>
ein Punkt der andren entsprechen muß. Ersetzt man das<lb/>
Strahlbüschel durch ein Bündel paralleler Strahlen, welche man<lb/>
sich der Seite eines Quadrats parallel denkt, so ergibt sich,<lb/><note xml:id="seg2pn_7_2" prev="#seg2pn_7_1" place="foot" n="4">von <hi rendition="#k">Baco</hi> und <hi rendition="#k">Scotus</hi> in vorliegender Frage sowie über die damit zusammen-<lb/>
hängende Kontroverse über die Räumlichkeit der Engel. &#x2014; Zur Naturphiloso-<lb/>
phie <hi rendition="#k">Bacos</hi> vgl. auch <hi rendition="#k">Goethe</hi>, <hi rendition="#i">Gesch. d. Farbenlehre</hi> XV. S. 472 ff.</note><lb/>
<fw place="bottom" type="sig">13*</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[195/0213] Scholastik: Gg. die mathematische Atomistik. zu besitzen, diese Beweise erneuert zu haben; ihre allgemeine Verbreitung haben sie dann durch Duns Scotus gewonnen. 1 Sie wenden sich alle gegen die Auffassung, daß die Linien aus unteilbaren Punkten von konstanter Größe bestehen, und weisen nach, daß sich aus dieser Vorstellung Widersprüche ergeben. Denn es folgt daraus, daß entweder der indivisible Punkt noch teilbar ist, oder daß (um der Kürze wegen einen Ausdruck der neueren Geometrie zu brauchen) alle perspektivisch liegenden Gebilde gleich groß sind. Zur Erläuterung mag folgen- der Beweis dienen, der die übrigen, welche auf gleichem Prinzip ruhen, füglich vertreten kann. Es wird nämlich gesagt (s. Fig. 3, S. 196): Wenn A und B zwei benachbarte Punkte eines Kreises sind und CA und CB die zugehörigen Radien, so müssen diese einen kleineren konzentrischen Kreis schneiden. Schneiden sie diesen Kreis in zwei getrennten Punkten, so muß der kleinere Kreis genau ebensoviel Punkte enthalten als der größere; und da nun unteilbare Punkte in der Größe sich nicht unterscheiden können, so müßte der kleinere Kreis gleich dem größeren sein, was unmöglich ist. Schnitten die beiden Radien aber den kleineren Kreis in zwei zusammenfallenden, d. h. in einem einzigen Punkte, so entstände ein Widerspruch gegen den Satz, daß zwischen zwei Punkten (A und D) nur eine einzige Gerade möglich sei. Wollte man etwa annehmen, daß die beiden Radien, obgleich sie beide durch den Punkt D gehen, doch nicht zusammenfielen, so würde daraus folgen, daß dieser Punkt selbst teilbar sei. Offenbar kann man diesen sogenannten Be- weisen die mannigfaltigste Form geben, indem man von irgend einem Strahlbüschel ausgeht und zwei beliebige Figuren in demselben betrachtet, so daß nun je einem Punkte der einen ein Punkt der andren entsprechen muß. Ersetzt man das Strahlbüschel durch ein Bündel paralleler Strahlen, welche man sich der Seite eines Quadrats parallel denkt, so ergibt sich, 4 1 Duns Scotus (Opera, Lugduni 1639) gibt seine Beweise im Kommentar zur Physik, Lib. VI. physicorum, Quaest. I. § 4. Tom. II. p. 352 ff. und Lib. II. Sentent. Distinct, II. Quaest. IX. Tom. VI. p. 230 ff. 4 von Baco und Scotus in vorliegender Frage sowie über die damit zusammen- hängende Kontroverse über die Räumlichkeit der Engel. — Zur Naturphiloso- phie Bacos vgl. auch Goethe, Gesch. d. Farbenlehre XV. S. 472 ff. 13*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/213
Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/213>, abgerufen am 16.05.2024.