Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Laube, Heinrich: Das junge Europa. Bd. 1, 2. Leipzig, 1833.

Bild:
<< vorherige Seite

Bewegende ist das Musikalische in uns, weil man es
in seinem Zusammenhange nicht überblicken kann; dar¬
um, Freund, sind Revolutionen etwas so sehr Gewag¬
tes, dem man sich nur in äußerster Nothwendigkeit hin¬
geben darf; das Gewordene, Abgemachte, Plastische ist
als ein außer uns Liegendes immer in der Vergangen¬
heit. Man übersieht es und kann leichter der Sache
Herr werden. Das ist der Vorzug der Stabilität und
der vorsichtigen Reformen. Jene ist das Plastische der
Weltgeschichte, die Musik ist ihre Revolution. Daher
der Zwiespalt in unserm Innern, der uns abwechselnd
zu dem Musikalischen und Plastischen hinzieht, wo wir
dann bei dem einen Bewegung, bei dem andern Ruhe
gleich unangenehm vermissen. Das Vermittelnde ist die
Liebe und die Poesie. Ich will dichten und lieben; die
Musik betäubt mich, macht mich wirr. In Liebe und
Poesie ist gerade das Geistigste, die Idee, zugleich das
Plastische, was wir uns in jedem Augenblicke deutlich
vorhalten können, während das mehr Materielle, die
Form, in der beide sich äußern, das Musikalische ist, so
daß wir zugleich Ruhe und Bewegung genießen.

So bin ich auch mit meinen religiösen Ansichten
jetzt unzufrieden. Man sieht es solchen Byron-ratio¬

4 *

Bewegende iſt das Muſikaliſche in uns, weil man es
in ſeinem Zuſammenhange nicht überblicken kann; dar¬
um, Freund, ſind Revolutionen etwas ſo ſehr Gewag¬
tes, dem man ſich nur in äußerſter Nothwendigkeit hin¬
geben darf; das Gewordene, Abgemachte, Plaſtiſche iſt
als ein außer uns Liegendes immer in der Vergangen¬
heit. Man überſieht es und kann leichter der Sache
Herr werden. Das iſt der Vorzug der Stabilität und
der vorſichtigen Reformen. Jene iſt das Plaſtiſche der
Weltgeſchichte, die Muſik iſt ihre Revolution. Daher
der Zwieſpalt in unſerm Innern, der uns abwechſelnd
zu dem Muſikaliſchen und Plaſtiſchen hinzieht, wo wir
dann bei dem einen Bewegung, bei dem andern Ruhe
gleich unangenehm vermiſſen. Das Vermittelnde iſt die
Liebe und die Poeſie. Ich will dichten und lieben; die
Muſik betäubt mich, macht mich wirr. In Liebe und
Poeſie iſt gerade das Geiſtigſte, die Idee, zugleich das
Plaſtiſche, was wir uns in jedem Augenblicke deutlich
vorhalten können, während das mehr Materielle, die
Form, in der beide ſich äußern, das Muſikaliſche iſt, ſo
daß wir zugleich Ruhe und Bewegung genießen.

So bin ich auch mit meinen religiöſen Anſichten
jetzt unzufrieden. Man ſieht es ſolchen Byron-ratio¬

4 *
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0087" n="75"/>
Bewegende i&#x017F;t das Mu&#x017F;ikali&#x017F;che in uns, weil man es<lb/>
in &#x017F;einem Zu&#x017F;ammenhange nicht überblicken kann; dar¬<lb/>
um, Freund, &#x017F;ind Revolutionen etwas &#x017F;o &#x017F;ehr Gewag¬<lb/>
tes, dem man &#x017F;ich nur in äußer&#x017F;ter Nothwendigkeit hin¬<lb/>
geben darf; das Gewordene, Abgemachte, Pla&#x017F;ti&#x017F;che i&#x017F;t<lb/>
als ein außer uns Liegendes immer in der Vergangen¬<lb/>
heit. Man über&#x017F;ieht es und kann leichter der Sache<lb/>
Herr werden. Das i&#x017F;t der Vorzug der Stabilität und<lb/>
der vor&#x017F;ichtigen Reformen. Jene i&#x017F;t das Pla&#x017F;ti&#x017F;che der<lb/>
Weltge&#x017F;chichte, die Mu&#x017F;ik i&#x017F;t ihre Revolution. Daher<lb/>
der Zwie&#x017F;palt in un&#x017F;erm Innern, der uns abwech&#x017F;elnd<lb/>
zu dem Mu&#x017F;ikali&#x017F;chen und Pla&#x017F;ti&#x017F;chen hinzieht, wo wir<lb/>
dann bei dem einen Bewegung, bei dem andern Ruhe<lb/>
gleich unangenehm vermi&#x017F;&#x017F;en. Das Vermittelnde i&#x017F;t die<lb/>
Liebe und die Poe&#x017F;ie. Ich will dichten und lieben; die<lb/>
Mu&#x017F;ik betäubt mich, macht mich wirr. In Liebe und<lb/>
Poe&#x017F;ie i&#x017F;t gerade das Gei&#x017F;tig&#x017F;te, die Idee, zugleich das<lb/>
Pla&#x017F;ti&#x017F;che, was wir uns in jedem Augenblicke deutlich<lb/>
vorhalten können, während das mehr Materielle, die<lb/>
Form, in der beide &#x017F;ich äußern, das Mu&#x017F;ikali&#x017F;che i&#x017F;t, &#x017F;o<lb/>
daß wir zugleich Ruhe und Bewegung genießen.</p><lb/>
        <p>So bin ich auch mit meinen religiö&#x017F;en An&#x017F;ichten<lb/>
jetzt unzufrieden. Man &#x017F;ieht es &#x017F;olchen Byron-ratio¬<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">4 *<lb/></fw>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[75/0087] Bewegende iſt das Muſikaliſche in uns, weil man es in ſeinem Zuſammenhange nicht überblicken kann; dar¬ um, Freund, ſind Revolutionen etwas ſo ſehr Gewag¬ tes, dem man ſich nur in äußerſter Nothwendigkeit hin¬ geben darf; das Gewordene, Abgemachte, Plaſtiſche iſt als ein außer uns Liegendes immer in der Vergangen¬ heit. Man überſieht es und kann leichter der Sache Herr werden. Das iſt der Vorzug der Stabilität und der vorſichtigen Reformen. Jene iſt das Plaſtiſche der Weltgeſchichte, die Muſik iſt ihre Revolution. Daher der Zwieſpalt in unſerm Innern, der uns abwechſelnd zu dem Muſikaliſchen und Plaſtiſchen hinzieht, wo wir dann bei dem einen Bewegung, bei dem andern Ruhe gleich unangenehm vermiſſen. Das Vermittelnde iſt die Liebe und die Poeſie. Ich will dichten und lieben; die Muſik betäubt mich, macht mich wirr. In Liebe und Poeſie iſt gerade das Geiſtigſte, die Idee, zugleich das Plaſtiſche, was wir uns in jedem Augenblicke deutlich vorhalten können, während das mehr Materielle, die Form, in der beide ſich äußern, das Muſikaliſche iſt, ſo daß wir zugleich Ruhe und Bewegung genießen. So bin ich auch mit meinen religiöſen Anſichten jetzt unzufrieden. Man ſieht es ſolchen Byron-ratio¬ 4 *

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/laube_europa0102_1833
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/laube_europa0102_1833/87
Zitationshilfe: Laube, Heinrich: Das junge Europa. Bd. 1, 2. Leipzig, 1833, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laube_europa0102_1833/87>, abgerufen am 28.04.2024.