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Laukhard, Friedrich Christian: F. C. Laukhards Leben und Schicksale. Bd. 2. Halle, 1792.

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den. Dieses schmeichelte meinen Ehrgeitze so, daß ich
beschloß, beide Classen beizubehalten, und meiner
Pflicht in Unterrichtung meiner Schüler nach meinen
Kräften Genüge zu leisten. Herr Freylingshausen
mißbilligte zwar meinen Abzug vom Waisenhause
nicht, doch setzte er gleichsam ahndend hinzu: es wä-
re schon mancher in der Stadt verdorben worden,
der sich auf dem Waisenhause recht gut betragen
hätte.

Ich wohnte also bei Semlern. Gleich in den
ersten vier Tagen begegnete mir ein Possen, den ich
erzählen will. Ich hatte mit einem gewissen Herrn
Köster, einem alten Kandidaten, der alle Akade-
mien besucht und viele Schicksale erlitten hatte, da-
mals aber auf dem Waisenhause Lehrer war, Be-
kanntschaft gemacht, und konnte ihn seiner Ehrlich-
keit und seiner Kenntnisse wegen, gut leiden. Die-
ser besuchte uns eines Abends, Herrn Schmitz und
mich, und als wir ihn fragten, wo man sich ein we-
nig zerstreuen könnte, versprach er uns an einen Ort
zu führen, wo es uns gefallen würde. Wir gingen
und wurden von ihm vors Moritzthor in das erste
gelbe Eckhaus, das man damals den Korb nannte,
geführt. In diesem Hause wohnte eine Müllers Frau
von Wettin, mit fünf nicht häßlichen Töchtern; und
diese Töchter standen -- wie Schmitz und ich erst
nachher erfuhren -- im Rufe, als wenn sie eben

den. Dieſes ſchmeichelte meinen Ehrgeitze ſo, daß ich
beſchloß, beide Claſſen beizubehalten, und meiner
Pflicht in Unterrichtung meiner Schuͤler nach meinen
Kraͤften Genuͤge zu leiſten. Herr Freylingshauſen
mißbilligte zwar meinen Abzug vom Waiſenhauſe
nicht, doch ſetzte er gleichſam ahndend hinzu: es waͤ-
re ſchon mancher in der Stadt verdorben worden,
der ſich auf dem Waiſenhauſe recht gut betragen
haͤtte.

Ich wohnte alſo bei Semlern. Gleich in den
erſten vier Tagen begegnete mir ein Poſſen, den ich
erzaͤhlen will. Ich hatte mit einem gewiſſen Herrn
Koͤſter, einem alten Kandidaten, der alle Akade-
mien beſucht und viele Schickſale erlitten hatte, da-
mals aber auf dem Waiſenhauſe Lehrer war, Be-
kanntſchaft gemacht, und konnte ihn ſeiner Ehrlich-
keit und ſeiner Kenntniſſe wegen, gut leiden. Die-
ſer beſuchte uns eines Abends, Herrn Schmitz und
mich, und als wir ihn fragten, wo man ſich ein we-
nig zerſtreuen koͤnnte, verſprach er uns an einen Ort
zu fuͤhren, wo es uns gefallen wuͤrde. Wir gingen
und wurden von ihm vors Moritzthor in das erſte
gelbe Eckhaus, das man damals den Korb nannte,
gefuͤhrt. In dieſem Hauſe wohnte eine Muͤllers Frau
von Wettin, mit fuͤnf nicht haͤßlichen Toͤchtern; und
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[153/0155] den. Dieſes ſchmeichelte meinen Ehrgeitze ſo, daß ich beſchloß, beide Claſſen beizubehalten, und meiner Pflicht in Unterrichtung meiner Schuͤler nach meinen Kraͤften Genuͤge zu leiſten. Herr Freylingshauſen mißbilligte zwar meinen Abzug vom Waiſenhauſe nicht, doch ſetzte er gleichſam ahndend hinzu: es waͤ- re ſchon mancher in der Stadt verdorben worden, der ſich auf dem Waiſenhauſe recht gut betragen haͤtte. Ich wohnte alſo bei Semlern. Gleich in den erſten vier Tagen begegnete mir ein Poſſen, den ich erzaͤhlen will. Ich hatte mit einem gewiſſen Herrn Koͤſter, einem alten Kandidaten, der alle Akade- mien beſucht und viele Schickſale erlitten hatte, da- mals aber auf dem Waiſenhauſe Lehrer war, Be- kanntſchaft gemacht, und konnte ihn ſeiner Ehrlich- keit und ſeiner Kenntniſſe wegen, gut leiden. Die- ſer beſuchte uns eines Abends, Herrn Schmitz und mich, und als wir ihn fragten, wo man ſich ein we- nig zerſtreuen koͤnnte, verſprach er uns an einen Ort zu fuͤhren, wo es uns gefallen wuͤrde. Wir gingen und wurden von ihm vors Moritzthor in das erſte gelbe Eckhaus, das man damals den Korb nannte, gefuͤhrt. In dieſem Hauſe wohnte eine Muͤllers Frau von Wettin, mit fuͤnf nicht haͤßlichen Toͤchtern; und dieſe Toͤchter ſtanden — wie Schmitz und ich erſt nachher erfuhren — im Rufe, als wenn ſie eben

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Zitationshilfe: Laukhard, Friedrich Christian: F. C. Laukhards Leben und Schicksale. Bd. 2. Halle, 1792, S. 153. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laukhard_leben02_1792/155>, abgerufen am 27.04.2024.