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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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XII. Fragment. Von der Leichtigkeit
Zwölftes Fragment.
Von der Leichtigkeit der Physiognomik
.

Die geringste, gemeinste Kenntniß scheint schwer, wenn sie neu ist, wenn sie blos in Worten
vorgetragen, blos schriftlich oder mündlich gelehret wird; so lange sie noch keine praktische
Erfahrungssache oder tägliche Uebung ist. Welche unzählige Schwierigkeiten lassen sich gegen alles
in der Welt machen, was dennoch da ist, was täglich durch Menschen geschieht, und mit einer Leich-
tigkeit durch sie geschieht, die kaum glaublich seyn würde, wenn sie nicht eben so unläugbar wäre?

Was ließe sich gegen die Möglichkeit der Schiffahrt auf dem offnen weiten Weltmeere --
was gegen die Möglichkeit einer Taschenuhr, einer Ringuhr, was gegen unzählige Kunstwerke,
Kunststücke, Kunststreiche -- sagen und einwenden, wenn wir nicht täglich Gelegenheit hätten,
sie mit Augen zu sehen? Welche unzählige Schwierigkeiten lassen sich gegen die Arzneywissenschaft
machen? Und dennoch ists möglich, wo nicht hundert tausend, doch zehen tausend Schwierigkeiten,
die man dagegen machen könnte, und gemacht hat, zu überwinden und zu zernichten.

Was man nicht versucht hat, über dessen Möglichkeit, Leichtigkeit oder Schwerheit soll
man nicht zu schnell, nicht zu voreilig entscheiden. -- Das Leichteste kann dem schwer seyn, ders
nicht oft versucht hat. Wer öftere Versuche macht, kann sich das Schwerste leicht machen.

"Der gemeinste Gemeinplatz!" wird man sagen: und doch beruht darauf der Beweis
von der Leichtigkeit, Physiognomik zu studiren -- und von der intoleranten Seichtigkeit desjeni-
gen Kopfes, der lieber die Möglichkeit dieser Kunst bestreiten, als ihre Wirklichkeit betasten will.

Du hasts vielleicht noch nicht versucht, und kannst also nicht davon reden. Jch hab es
versucht, und kann wenigstens etwas drüber sagen. Jch, der ich von zwanzig Eigenschaften, die
ich an einem Physiognomisten für nöthig halte, kaum Eine mir beymessen kann. Ein äußerst kur-
zes Gesicht; durchaus keine Zeit; keine Geduld; keine Festigkeit zu zeichnen; unendlich wenig
Weltkenntniß; ein Beruf, der alles eigentliche fortgesetzte Studium mir unmöglich macht; Man-
gel an anatomischer Kenntniß; Mangel an Sprachreichthum und Sicherheit des Ausdrucks, die
nur eine weitläufige wohlverdaute Lektüre der besten Schriftsteller, besonders der epischen und dra-

mati-
XII. Fragment. Von der Leichtigkeit
Zwoͤlftes Fragment.
Von der Leichtigkeit der Phyſiognomik
.

Die geringſte, gemeinſte Kenntniß ſcheint ſchwer, wenn ſie neu iſt, wenn ſie blos in Worten
vorgetragen, blos ſchriftlich oder muͤndlich gelehret wird; ſo lange ſie noch keine praktiſche
Erfahrungsſache oder taͤgliche Uebung iſt. Welche unzaͤhlige Schwierigkeiten laſſen ſich gegen alles
in der Welt machen, was dennoch da iſt, was taͤglich durch Menſchen geſchieht, und mit einer Leich-
tigkeit durch ſie geſchieht, die kaum glaublich ſeyn wuͤrde, wenn ſie nicht eben ſo unlaͤugbar waͤre?

Was ließe ſich gegen die Moͤglichkeit der Schiffahrt auf dem offnen weiten Weltmeere —
was gegen die Moͤglichkeit einer Taſchenuhr, einer Ringuhr, was gegen unzaͤhlige Kunſtwerke,
Kunſtſtuͤcke, Kunſtſtreiche — ſagen und einwenden, wenn wir nicht taͤglich Gelegenheit haͤtten,
ſie mit Augen zu ſehen? Welche unzaͤhlige Schwierigkeiten laſſen ſich gegen die Arzneywiſſenſchaft
machen? Und dennoch iſts moͤglich, wo nicht hundert tauſend, doch zehen tauſend Schwierigkeiten,
die man dagegen machen koͤnnte, und gemacht hat, zu uͤberwinden und zu zernichten.

Was man nicht verſucht hat, uͤber deſſen Moͤglichkeit, Leichtigkeit oder Schwerheit ſoll
man nicht zu ſchnell, nicht zu voreilig entſcheiden. — Das Leichteſte kann dem ſchwer ſeyn, ders
nicht oft verſucht hat. Wer oͤftere Verſuche macht, kann ſich das Schwerſte leicht machen.

„Der gemeinſte Gemeinplatz!“ wird man ſagen: und doch beruht darauf der Beweis
von der Leichtigkeit, Phyſiognomik zu ſtudiren — und von der intoleranten Seichtigkeit desjeni-
gen Kopfes, der lieber die Moͤglichkeit dieſer Kunſt beſtreiten, als ihre Wirklichkeit betaſten will.

Du haſts vielleicht noch nicht verſucht, und kannſt alſo nicht davon reden. Jch hab es
verſucht, und kann wenigſtens etwas druͤber ſagen. Jch, der ich von zwanzig Eigenſchaften, die
ich an einem Phyſiognomiſten fuͤr noͤthig halte, kaum Eine mir beymeſſen kann. Ein aͤußerſt kur-
zes Geſicht; durchaus keine Zeit; keine Geduld; keine Feſtigkeit zu zeichnen; unendlich wenig
Weltkenntniß; ein Beruf, der alles eigentliche fortgeſetzte Studium mir unmoͤglich macht; Man-
gel an anatomiſcher Kenntniß; Mangel an Sprachreichthum und Sicherheit des Ausdrucks, die
nur eine weitlaͤufige wohlverdaute Lektuͤre der beſten Schriftſteller, beſonders der epiſchen und dra-

mati-
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[152/0220] XII. Fragment. Von der Leichtigkeit Zwoͤlftes Fragment. Von der Leichtigkeit der Phyſiognomik. Die geringſte, gemeinſte Kenntniß ſcheint ſchwer, wenn ſie neu iſt, wenn ſie blos in Worten vorgetragen, blos ſchriftlich oder muͤndlich gelehret wird; ſo lange ſie noch keine praktiſche Erfahrungsſache oder taͤgliche Uebung iſt. Welche unzaͤhlige Schwierigkeiten laſſen ſich gegen alles in der Welt machen, was dennoch da iſt, was taͤglich durch Menſchen geſchieht, und mit einer Leich- tigkeit durch ſie geſchieht, die kaum glaublich ſeyn wuͤrde, wenn ſie nicht eben ſo unlaͤugbar waͤre? Was ließe ſich gegen die Moͤglichkeit der Schiffahrt auf dem offnen weiten Weltmeere — was gegen die Moͤglichkeit einer Taſchenuhr, einer Ringuhr, was gegen unzaͤhlige Kunſtwerke, Kunſtſtuͤcke, Kunſtſtreiche — ſagen und einwenden, wenn wir nicht taͤglich Gelegenheit haͤtten, ſie mit Augen zu ſehen? Welche unzaͤhlige Schwierigkeiten laſſen ſich gegen die Arzneywiſſenſchaft machen? Und dennoch iſts moͤglich, wo nicht hundert tauſend, doch zehen tauſend Schwierigkeiten, die man dagegen machen koͤnnte, und gemacht hat, zu uͤberwinden und zu zernichten. Was man nicht verſucht hat, uͤber deſſen Moͤglichkeit, Leichtigkeit oder Schwerheit ſoll man nicht zu ſchnell, nicht zu voreilig entſcheiden. — Das Leichteſte kann dem ſchwer ſeyn, ders nicht oft verſucht hat. Wer oͤftere Verſuche macht, kann ſich das Schwerſte leicht machen. „Der gemeinſte Gemeinplatz!“ wird man ſagen: und doch beruht darauf der Beweis von der Leichtigkeit, Phyſiognomik zu ſtudiren — und von der intoleranten Seichtigkeit desjeni- gen Kopfes, der lieber die Moͤglichkeit dieſer Kunſt beſtreiten, als ihre Wirklichkeit betaſten will. Du haſts vielleicht noch nicht verſucht, und kannſt alſo nicht davon reden. Jch hab es verſucht, und kann wenigſtens etwas druͤber ſagen. Jch, der ich von zwanzig Eigenſchaften, die ich an einem Phyſiognomiſten fuͤr noͤthig halte, kaum Eine mir beymeſſen kann. Ein aͤußerſt kur- zes Geſicht; durchaus keine Zeit; keine Geduld; keine Feſtigkeit zu zeichnen; unendlich wenig Weltkenntniß; ein Beruf, der alles eigentliche fortgeſetzte Studium mir unmoͤglich macht; Man- gel an anatomiſcher Kenntniß; Mangel an Sprachreichthum und Sicherheit des Ausdrucks, die nur eine weitlaͤufige wohlverdaute Lektuͤre der beſten Schriftſteller, beſonders der epiſchen und dra- mati-

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 152. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/220>, abgerufen am 05.10.2024.